Jerusalem nach Angriff der Hamas: Im Kriegszustand

In Jerusalem leben Israelis und Palästinenser auf engstem Raum Tür an Tür. Doch der Hass auf den Nachbarn ist meist unversöhnlich. Ein Ortsbesuch.

Eine Frau unterwegs mit d em Kinderwagen in der Altstadt von Jerusalem, im Hintergrund ist der Felsendom zu sehen

Der Tempelberg mit dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee ist die drittheiligste Stätte im Islam Foto: Felix Wellisch

JERUSALEM taz | Isaak Al-Muwakt schiebt am Dienstagvormittag die roten Metallverschläge vor seinem Gewürzladen in der Altstadt von Jerusalem auf und schaltet die Beleuchtung ein. „Ich glaube, wir sollten, so gut es geht, beim normalen Leben bleiben, das würde hier in der Stadt wahrscheinlich allen am besten tun“, sagt der 46-Jährige mit grauem Vollbart. Natürlich sei er angespannt. „Was in den letzten Tagen in und um Gaza passiert ist, haben wir noch nie zuvor gesehen.“ Doch überrascht habe es ihn nicht. „Wir haben es alle gefühlt, es konnte so nicht weitergehen“, sagt er.

In der Altstadt von Jerusalem, wenige Hundert Meter vom Tempelberg mit der Al-Aksa-Moschee entfernt, ist es ruhig. Auf den Straßen, auf denen sich sonst Touristen und Pilger zwischen jüdischen, muslimischen und christlichen Einwohnern drängen, ist wenig los. Aus einem Fernseher im Nachbarladen tönt eine hitzige Debatte, wie Israels Regierung auf den beispiellosen Angriff der Hamas regieren soll. Bis Samstag kaum vorstellbar, wird nun über den möglichen Einmarsch der Armee in den Gazastreifen diskutiert.

Hunderte von Terroristen waren am Samstag im Auftrag der im Gazastreifen herrschenden Hamas in einem Überraschungsangriff über die Grenze nach Israel gekommen. Bei den darauf folgenden Angriffen sowie einem Massaker unter Teilnehmern eines Musikfestivals wurden rund 1.000 Menschen getötet, Männer, Frauen und Kinder. Mehr als 2.600 Menschen wurden nach Angaben des israelischen Gesundheitsministeriums verletzt. Israel reagierte mit Luftangriffen im Gazastreifen, bei denen laut Gesundheitsministerium in Gaza 788 Menschen, einschließlich mehr als 140 Kinder und 120 Frauen, getötet wurden. Mehr als 4.100 Menschen seien bei den Luftangriffen verletzt worden.

Die Hamas versucht indes, ihren Angriff auf den Rest des Landes auszuweiten: Für Freitag ruft sie nun zu einem „Tag der Al-Aksa-Flut“ auf. Der Konflikt soll damit auch auf den Jerusalemer Tempelberg getragen werden, der sowohl für Juden wie für Muslime einige der heiligsten Stätten ihrer Religion beherbergt. In der Altstadt leben Juden, Muslime und Christen, Israelis und Palästinenser seit langem Tür an Tür.

„Es bricht uns das Herz, dass Menschen, die nichts mit allem zu tun haben, auf beiden Seiten den Preis für die Politiker bezahlen müssen“, sagt Al-Muwakt. „Wenn du siehst, dass so viele Zivilisten ermordet werden.“ Die letzten Tage habe er wie die meisten Menschen hier Zuhause vor den Nachrichten oder am Handy verbracht, immer wieder unterbrochen vom Raketenalarm. „Aber es war zu erwarten und wir fühlen alle, wer dafür verantwortlich ist.“

Hamas-Militärführer Mohammed Deif hat den blutigen Angriff am Samstag, bei dem vor allem Zivilisten getötet wurden, als „Al-Aksa-Flut“ bezeichnet. Als Gründe für die Attacke nannte er „israelische Verbrechen“ und Angriffe auf den Tempelberg.

„Es bricht uns das Herz, dass Menschen, die nichts mit allem zu tun haben, auf beiden Seiten den Preis für die Politiker bezahlen müssen“, sagt der Gewürzhändler Al-Muwakt

Al-Muwakt sagt: „Das Problem ist: Es gibt in diesem Land keine Sicherheit für Palästinenser.“ Wenn sein 19-jähriger Sohn, der ihm heute im Laden hilft, zur Schule oder ins Fitnessstudio gehe, wisse er stets, dass er nicht zurückkommen könnte.

Immer wieder sterben im Westjordanland und in Jerusalem Palästinenser, oft Minderjährige, bei Auseinandersetzungen mit militanten Siedlern oder der Armee. Immer wieder trifft es dabei auch Unbeteiligte. Seit Samstag wurden im Westjordanland bei eigenen Anschlägen und Zusammenstößen 18 Palästinenser getötet. Doch die meisten Menschen in Jerusalem und auch im Westjordanland scheinen bisher dem Aufruf der Hamasführung, sich dem Krieg gegen Israel anzuschließen, nicht zu folgen.

Dennoch ist die Lage in Jerusalem angespannt. Anders als in anderen Teilen des Landes leben in den engen Gassen der Altstadt Palästinenser und jüdische Siedler Tür an Tür. Hinter Al-Muwakts Laden führt eine schmale Treppe aus der engen Marktstraße auf die Dächer der Stadt. Hier haben sich mit Blick auf die goldene Kuppel des Felsendoms religiöse jüdische Siedler niedergelassen und eine Thoraschule gegründet.

Jehuda und Meir, beide mit langen Schläfenlocken und schwarzen Kippas, stehen auf dem mit grünem Kunstrasen ausgelegten Flachdach und sehen ihren Gemeindemitgliedern dabei zu, wie sie das kleine Zelt abbauen, das sie in ihrer Gemeinde für das jüdische Laubhüttenfest Sukkot errichtet hatten. „Wir hatten in Jerusalem die letzten Tage keine Probleme, aber wir schauen alle nach Süden“, sagt Jehuda. Südwestlich von Jerusalem liegt der Gazastreifen. „Ich erwarte, dass es Krieg geben wird und ich glaube, es ist etwas Gutes, dass jetzt jeder weiß, dass die Araber Mörder sind und dass sie uns umbringen wollen.“ Er lebe hier mit seinen arabischen Nachbarn, als Siedler. „Aber ich weiß, dass sie uns hassen. Es steht in ihrem Koran geschrieben.“

Im Stockwerk darunter, im Gewürzladen, kann Al-Muwakt darüber nur müde lachen. „Das ist, was sie sagen, aber am Ende kaufen sie ganz normal bei mir ein, wie alle anderen auch. Manche grüßen uns sogar.“ Das Problem seien die radikalen Siedler, die mit Sturmgewehren und Pistolen durch die Stadt liefen und genau wüssten, dass sie höchstwahrscheinlich vor Gericht davonkommen könnten, wenn sie einen Palästinenser töten würden.

Als Reaktion auf die Angriffe der Hamas hat der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, am Dienstag verkündet, er wolle 4.000 Sturmgewehre an Freiwillige in gemischten Städten mit jüdischer und muslimischer Bevölkerung verteilen. Al-Muwakt sagt: „Ich glaube, am Ende hat dieses Denken zu dem geführt, was in Gaza passiert.“ Die Politik, die Israels religiös nationalistische Regierung zuletzt zulasten der Palästinenser forciert hat, habe die ohnehin schon angespannte Lage endgültig eskalieren lassen.

Ein Gewürzhändler steht in seinem Geschäft in der Altstadt. Eine große Auswahl an offenen Gewürzen liegt vor ihm

Das Problem seien die radikalen Siedler, findet der Jerusalemer Gewürzhändler Isaak Al-Muwakt Foto: Felix Wellisch

In den engen Gassen der Stadt stehen alle paar hundert Meter Checkpoints der israelischen Grenzpolizei. Je mehr man sich den großen Toren zum Tempelberg nähert, den Muslime auch Al Haram Asch Scharif nennen, desto mehr Läden haben geschlossen. Die große Marktstraße vor dem Eingang, sonst voller Süßigkeitenläden und Shisha-Cafés, ist am Dienstag verwaist. Nur zwei israelische Sicherheitsbeamte bewachen den Zugang.

Seit der Eroberung Ostjerusalems durch israelische Truppen 1967 kontrolliert Israel den Zugang zum Tempelberg. Dieser sogenannte Status Quo regelt zudem, dass das Gelände selbst von der muslimischen Waqf-Behörde verwaltet wird und jüdische Besucher sich dort nur zu bestimmten Zeiten aufhalten dürfen. Beten ist ihnen dort untersagt. Verstöße gegen den Status Quo durch jüdische Siedler führen immer wieder zu Spannungen.

Heute sei es ruhig, sagt einer der Grenzpolizisten. Das liege aber auch daran, dass die meisten Checkpoints ins Westjordanland geschlossen seien. Viele Palästinenser, die täglich zum Arbeiten kommen, bleiben auch deshalb zuhause.

Geht es nach der Hamas, sollen junge Palästinenser am Freitag im Westjordanland Polizisten attackieren. Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft sollen sich auf dem Tempelberg versammeln. So sollen sie das palästinensische Volk “angesichts des offenen Krieges der (israelischen) Besatzung“ unterstützen.

Vor dem Damaskustor, dem Zugang zum arabischen Viertel der Altstadt, hat sich der Lehrer Mohammed in einem Café niedergelassen. „Ich habe heute frei, weil alle Schulen zu sind“, erzählt er. Er wohne in Ost-Jerusalem. Bisher sei es auch dort verhältnismäßig ruhig gewesen. Der palästinensische Hebräischlehrer möchte keine Schätzung abgeben, wie viele Menschen sich dem Hamas-Aufruf am Freitag anschließen könnten. „Aber es wird einen großen Krieg geben, nach allem, was derzeit in Gaza und im Norden mit der Hisbollah im Libanon passiert“, glaubt er.

Ein israelischer Polizist betritt das Café. Mohammed und er kennen sich. Beide begrüßen sich auf Hebräisch, und für einen Moment scheint der Krieg, der im Süden und Norden des Landes schon begonnen hat, weit weg. Es ist eine wohltuende Szene in einer Stadt, in der der Hass auf den anderen oft unversöhnlich zu sein scheint.

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