Jürgen Trittin über den Atomausstieg: „Das ist ein großer Erfolg“

Jürgen Trittin kämpfte als Hausbesetzer und später als Umweltminister gegen die Kernkraft. Das Ende der letzten drei AKWs will er mit Freunden feiern.

Jürgen Trittin trägt einen roten Overall und einen Schutzhelm mit einer Stirnlampe

Jürgen Trittin als Bundesumweltminister 1999 zu Besuch in Gorleben Foto: Christian Charisius/reuters

wochentaz: Herr Trittin, am 15. April gehen die letzten deutschen Atomkraftwerke vom Netz. Wie feiern Sie?

Jürgen Trittin: Ich sitze erst mit ein paar Freunden zusammen. Später gehe ich zum Brandenburger Tor. Dort plant Greenpeace für Mitternacht eine Aktion.

Mit Countdown wie an Silvester?

Greenpeace zündet wohl kaum ­Böller.

Wären nicht der Ukrainekrieg und die Energiekrise dazwischengekommen, würden die Grünen vermutlich ausgelassen feiern.

Das weiß ich nicht. Ich habe den Eindruck, dass die Emphase aus dem Thema raus ist, seit 2011 der Konsens zum Atomausstieg wieder erkämpft wurde. Manchen meiner Freunde im Wendland fehlte seitdem richtig was, weil die jährlichen Demonstrationen nicht mehr stattfanden. Die Aufregung ist seitdem auf jeden Fall raus. An diesem Samstag endet ein vergleichsweise rationaler Prozess, und deswegen fällt die Begeisterung über das Erreichte nicht so aus, wie man sich das vielleicht vor 30 Jahren vorgestellt hat. Das schmälert nicht das Ergebnis: Der Atomausstieg ist richtig, und dass er nun vollzogen wird, ist ein großer Erfolg, für den gerade wir Grünen lange und mit viel Einsatz gekämpft haben.

Wie lange reicht dieser Kampf für Sie persönlich zurück?

Jürgen Trittin sitzt seit 1998 für die Grünen im Bundes­tag, erst als Umweltminister, später als Fraktionsvorsitzender, seit 2014 im Auswärtigen Ausschuss.

Mitte der 1970er wurde der AKW-Bauplatz im badischen Wyhl auch von Leuten besetzt, denen wir das zunächst gar nicht zugetraut hätten. Ich war 20 Jahre alt und zu diesem Zeitpunkt Haus­besetzer. Solche Aktionen waren damals eigentlich ein Privileg für linksradikale Studierende. Dass konservative Landwirte mit so was anfangen, konnte ich mir damals kaum vorstellen. Dann gab es die große Trecker­demonstration der Gorleben-­Bauern vom Wendland nach Hannover. Das war für mich ein Mitauslöser. Aus diesem Treck und der Bewegung heraus ist später auch ein wesentlicher Teil der Grünen entstanden.

Gäbe es die Partei heute überhaupt ohne dieses Thema?

Der Kampf gegen die Atomkraft war konstituierend für die Partei. Er brachte Kräfte aus sehr unterschiedlichen Ecken zusammen, vom CDU-Abgeordneten Herbert Gruhl über FDPler und SPD-Mitglieder bis zu Linksradikalen wie mir. Damit die alle zusammenkommen konnten, war eine Frage nötig, in der sie sich einig waren – und das war die Ablehnung der Atomenergie.

Und wie wichtig war die Partei­gründung für die Bewegung? In diesem Schritt steckte ja gewissermaßen schon eine Abkehr vom zivilen Ungehorsam und der Militanz der Anfangsjahre.

Die Korrektur politischer Strategien zieht sich durch die Geschichte des Atomausstiegs. Man hat zuerst versucht, durch die Besetzung von Bauplätzen den Neubau zu verhindern. Diese Strategie ist zwar nicht komplett gescheitert. Es gab Planungsstopps. Aber die Nutzung der Atomenergie an sich wurde nicht beendet. Deswegen wollten wir Grünen diesen Protest in die Parlamente tragen. Später haben wir versucht, in den Bundesländern, in denen wir regiert haben, über eine sehr konsequente Auslegung der Sicherheitsstandards die Anlagen stillzulegen. Das ist gescheitert, weil sie zu diesem Zeitpunkt so rentabel waren, dass sich die Betreiber jede Nachrüstung leisten konnten. Schließlich haben wir zuerst in Niedersachsen und später auf Bundesebene den Weg eingeschlagen, die Atomenergie im Konsens mit der Industrie zu beenden. Das ist von vielen in der Bewegung erst mal kritisch gesehen worden, hat sich aber im Ergebnis als richtig erwiesen.

Anders als die Atomkraft war der Klimawandel für die Grünen und die Bewegung zu Beginn kein großes Thema. Warum nicht?

Der Klimawandel war damals ein ziemlich neues Thema, hat aber ab Mitte der 1990er Jahre eine immer größere Rolle gespielt. Deswegen sind wir 2001 nicht einfach nur aus der Atomenergie aus-, sondern gleichzeitig in die Erneuerbaren eingestiegen. Umgekehrt wäre es ohne den Druck des Atomausstiegs gar nicht möglich gewesen, in den Hochzeiten 20 Milliarden Euro pro Jahr in die Erneuerbaren zu investieren und sie damit für den Rest der Welt erst wettbewerbsfähig zu machen. Insofern gibt es einen Zusammenhang zwischen beiden Themen.

Schön und gut, aber den Klimawandel hätte man schon in den 1980ern als Problem erfassen können.

Wenn ich daran erinnern darf: Als Grüne waren wir damals nicht an der Regierung. Aussagen zur Reduktion der CO2-Bilanz finden Sie aber schon in unseren Wahlprogrammen der frühen 1990er. Ich bezweifle jedoch, dass wir vor 25 Jahren Mehrheiten für den Kohleausstieg wie heute gefunden hätten.

Wie mühsam war es, den Atomausstieg in der rot-grünen Koalition durchzusetzen?

Rot und Grün waren der irrigen Auffassung, sie wollten das Gleiche. An der Regierung hat sich dann herausgestellt, dass das nicht immer bei jedem Thema stimmte – da gibt es manchmal eine Parallele zu heute. Auf Druck der In­dus­trie hat Gerhard Schröder gebremst. Wir mussten die vorgesehene Gesetzesnovelle zum Atomausstieg verschieben, ähnlich wie heute beim Gebäude­energiegesetz zu den Heizungen. Am Ende haben wir sie aber umgesetzt.

Was können die Grünen daraus denn für die heutigen Konflikte in der Ampel lernen?

Dass in einer solchen Regierungskonstellation nicht immer die Frage von links und rechts entscheidend ist, sondern der Konflikt zwischen Strukturkonservatismus und Veränderung. Die Erfahrung dieses Konfliktes zieht sich durch alle grünen Regierungsbeteiligungen, und deshalb können wir, das ist ebenfalls eine Erfahrung, unsere Ziele nur mit Beharrlichkeit, klugen Kompromissen und manchmal auch über Umwege erreichen.

Und wo sehen Sie Unterschiede zu damals?

Robert Habeck steht heute vor einem größeren Problem. Wir mussten damals ein paar Großkonzerne und die darin organisierten Arbeitnehmer überzeugen. Wenn man aber die Mobilität und die Wärmebereitstellung dekarbonisieren will, dann trifft das jeden Einzelnen bei der eigenen Heizung und dem eigenen Auto. Das ist eine Veränderung, die die Menschen viel stärker spüren und die von den strukturkonservativen Kräften in diesem Lande extrem gut verhetzbar ist. Deswegen habe ich großen Respekt vor Roberts Arbeit.

Robert Habeck ist großer Kritik aus der Klimabewegung ausgesetzt, der alles zu langsam geht – vergleichbar mit den damaligen Vorwürfen der Anti-AKW-Bewegung gegen Sie als Umweltminister.

Das Verhältnis zwischen meiner Person und Leuten im Wendland oder bei Greenpeace ist heute viel entspannter als damals. Auf beiden Seiten haben wir gelernt, dass wir nicht ohneeinander können. Ohne den Druck aus den Bewegungen hätten wir die Gesetzlichkeit nicht durchsetzen können, und ohne uns an der Regierung hätte die Bewegung diese Gesetzlichkeit nicht gekriegt. Insofern muss man mit diesem Spannungsverhältnis leben. Und genauso wie Robert zurzeit von manchen der Letzten Generation oder anderen angefeindet wird, bin ich ziemlich sicher, dass sie in zehn Jahren miteinander schön gemütlich Kaffee trinken. Auch wenn es natürlich einen großen Unterschied gibt: Beim Atomausstieg konnten wir einen langen Ball spielen. In der Klimakrise drängt die Zeit.

Letzten Herbst schien der Atomausstieg zu wackeln. Robert Habeck war in der Energiekrise offen für eine Laufzeitverlängerung, Sie und andere in der Grünen-Fraktion waren dagegen. Wie tief ging der Riss?

In der Regierung wollte man sich nicht dem Vorwurf aussetzen lassen, dass im Winter irgendwas schiefgehen könnte. Daher gab es aus dem Wirtschaftsministerium die Überlegung, eine Laufzeitverlängerung zu machen. Ich und die meisten in der Fraktion haben die Diskussion nicht verstanden. Wir haben uns sehr beharrlich und störrisch dagegengestellt. Am Ende stand dann das Machtwort des Kanzlers, über dessen Zustandekommen ich hier nicht philosophieren will, und man hat symbolisch, um Versorgungssicherheit zu simulieren, die Dinger drei Monate länger laufen lassen.

Im Bundestag haben Sie mit sieben Frak­ti­ons­kol­leg*in­nen gegen die Kurzzeitverlängerung gestimmt.

Die Fraktion hat das mit heimlicher Freude gesehen, weil damit dem Kanzler signalisiert wurde: Jetzt ist wirklich Schluss mit lustig; die drei Monate kriegste noch, aber mehr ist nicht drin. Das war die Funktion dieser Neins.

Die Gegenseite kann nun stets behaupten: So wichtig ist den Grünen der Klimaschutz also doch nicht.

Ein absurder Gedanke. In Frankreich kann man sehen, wohin es führt, wenn man überalterte Atomanlagen zu lange am Netz lässt. Die Dinger können nicht mehr richtig gekühlt werden und haben Risse in den Druckbehältern. Im Ergebnis musste Deutschland im letzten Jahr so viel Strom nach Frankreich exportierten wie nie zuvor, darunter auch Kohlestrom. Klimaschutz durch Atomenergie? Das überzeugt mich nach der Erfahrung nicht.

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