Jugendzentrum in Anklam in Gefahr: „Amtlich versiegelt“

Das Jugendzentrum „Demokratiebahnhof “ wurde vom Landkreis geschlossen. Was bedeutet das für die Stadt, in der viele Rechtsextreme leben?

Ein rotes Siegel blockiert die Tür an einem Jugendzentrum in Anklam

Die amtliche Versiegelung kam unerwartet Foto: Juli Katz

ANKLAM taz | „Amtlich versiegelt“. So stand es auf einem fast schon lächerlich winzigen, rotleuchtenden Blättchen Papier, das über dem Schlüsselloch klebte. Absender: Landkreis Vorpommern-Greifswald. Betroffen: „Demokratiebahnhof Anklam“. Die Grundstücks-GmbH hatte dem Jugendzentrum die Räume gekündigt. Der Zustand des Gebäudes sei zu schlecht.

Für den Verein kam die Schließung überraschend. Zwar soll es vorab konstruktive Gespräche mit der Stadt und der Gebäudeeigentümerin gegeben haben, um über andere Standorte und Sanierungsmaßnahmen zu reden. Von einer Versiegelung allerdings habe niemand gesprochen. Die Tür ist seit Mitte März zu. Dieses Jahr würde der Demokratiebahnhof sein zehnjähriges Bestehen feiern. Sein Grundsatz ist, Jugendliche zum Selbstmachen anzuregen und Demokratie inmitten rechtsextremer Strukturen hochzuhalten.

Der Verein befand sich in Anklam immer schon in den Räumen des alten Backsteingebäudes am Bahnhof. Geleistet wird der Großteil der Arbeit vor Ort von einem Bundesfreiwilligen und einem Jugendsozialarbeiter. Im Vordergrund steht das Mitbestimmungsrecht von Jugendlichen.

Es gibt Fotokurse, Fahrradwerkstätten, Siebdruck, im Aufenthaltsraum steht eine Tischtennisplatte – wie in jedem Jugendtreff. Das Besondere am Demokratiebahnhof ist der Standort Anklam. In der 12.870-Einwohner-Stadt blieb bis vor wenigen Jahren kaum jemand, man fuhr eher durch.

Die Stadt galt nach der Wiedervereinigung als strukturschwach, mit vielen alten und freudig abwandernden jungen Menschen. Das hat sich geändert. Unternehmen sind gekommen, mit ihnen Arbeitsplätze, Museen sollen Leute anlocken, auf dem Marktplatz stehen Reisebüros neben Eiscafés. Es gibt Gründe, zu bleiben oder zurückzukehren. Doch es gibt auch etwas, das sich in Anklam seit langem manifestiert: Rechtsextremismus.

Stigma „Nazihochburg“

Kürzlich war Anklam in den Medien, weil bei einer Polizeirazzia ein Vereinsheim des verbotenen rechtsextremen Vereins „Hammerskins Deutschland“ hochgenommen wurde. Im neuesten Verfassungsschutzbericht taucht der Name der Stadt mehrfach auf. Es werden ausgeprägte kameradschaftliche Strukturen beschrieben, das „Haus Jugendstil“ als Treffpunkt der rechtsextremistischen Szene und des NPD-Landesverbandes und ein rechtsextremistischer Szeneladen.

Wer der NPD MV beitreten will, meldet sich beim Landesverband mit Sitz in Anklam. Die AfD gewann bei der letzten Bundestagswahl im umliegenden Wahlkreis 23 Prozent der Stimmen.

Der Eingang eines braunen Backsteingebäudes.

Foto: BildFunkMV/imago

Den Begriff „Nazihochburg“ zu verwenden, hält der Sozialwissenschaftler Dierk Borstel für unpassend, weil er stigmatisiere und vor Ort zur Abwehr führe. Er betont aber, dass das rechtsextreme Netzwerk mittlerweile tief in der regionalen Wirtschaft verankert ist – und damit in der Mitte der Stadtgesellschaft.

Einige Rechtsextreme haben sich in den vergangenen Jahren zusammengeschlossen, bieten handwerkliche Dienste an, kaufen Immobilien und organisieren sich, vor allem in der Baubranche. „[Das Netzwerk] wurde über Jahrzehnte aufgebaut, wird nur noch selten thematisiert und ist aus der Stadt selbst heraus kaum noch zu bekämpfen. Dafür bräuchte es externe Hilfe und guten Willen vor Ort.“

Ein solcher Ort wollte der Demokratiebahnhof sein, gegründet 2014 von Jugendlichen aus Anklam und der Region Vorpommern und seitdem größtenteils ehrenamtlich organisiert. Das beschreibt Clara Engel, die in Anklam aufgewachsen ist und sich seit knapp zehn Jahren im Demokratiebahnhof engagiert. 2015 kam sie als Schülerin in den Verein, später hat sie ihren Bundesfreiwilligendienst dort absolviert, ein Festival mit­organisiert und saß bis Ende 2023 im Vorstand.

Der 24-Jährigen zufolge geht es für die Jugendlichen darum, einen Treffpunkt zu haben, an dem man mit anderen abhängen kann. Die Jugendlichen können an Angeboten teilnehmen oder sich selbst ausprobieren und werden dabei vom Verein unterstützt. Rund 10 bis 15 Jugendliche nutzen das Angebot täglich.

Konkurrenz um dasselbe Publikum

Die Besonderheit? Engel sagt: „Unser Raum ist nicht exklusiv. Einmal sei ein Junge mit Thor-Steinar-Hose gekommen. Sie hätten das Gespräch gesucht, gefragt, woher er die Hose habe, ob er wisse, was es für eine Marke ist. Wusste er nicht. Hatte er von seinen Eltern geschenkt bekommen.“ Sie hätten ihm dann erklärt, die Marke sei ein Erkennungsmerkmal der rechtsextremen Szene, und ihn deswegen gebeten, das Logo abzukleben.

„Wir können Gespräche anstoßen und Informationen geben, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Es geht dann im Elternhaus und Freundeskreis weiter“, sagt Engel.

Der Demokratiebahnhof leistet also auch Bildungsarbeit. Wissenschaftler Borstel zufolge konkurrieren Projekte wie der Demokratiebahnhof mit solchen aus der rechtsextremen Szene um dasselbe Publikum. Er verstehe den Demokratiebahnhof vor allem als Präventionsprojekt und Schutzraum für nicht rechtsextreme Menschen.

Ein Raum mit einem Tisch in der Mitte.

Foto: Bernd Wüstneck/dpa

„Dieser Anlaufpunkt fehlt jetzt, während die rechtsextremen Szenen ihre Jugendangebote weiter anbieten und es verstehen, solche Lücken zu füllen.“ Kein Wunder, dass das Engagement nicht immer gern gesehen war – weder innerhalb der Stadtbevölkerung noch bei den Rechten.

„Schmierereien an den Wänden gab es immer mal wieder“, sagt Engel. An einem Junitag 2017, als Molotowcocktails und Farbbomben gegen das Gebäude flogen, war sie selbst dabei. Verletzt wurde dabei niemand, Angriffe gibt es aber häufiger – sei es in Form von Stickern mit Symbolen aus der rechten Szene oder Parolen mit homophoben und transfeindlichen Aussagen an den Wänden.

„Kein Ort für Schwule und Transen“, stand im März 2021 an der Scheibe, mit Edding geschrieben. Jemand vom Demokratiebahnhof überklebte das „K“ und machte daraus einen Ort für Schwule und Transen.

Ist es bei so viel Tumult nicht leichter, aufzugeben, wegzugehen, den Nazis den Rücken zu kehren, statt Kämpfe gegen die Stadt und gegen rechtsextreme Strukturen und Angriffe führen zu müssen, jetzt, wo auch noch die Mietbelastung und die Unsicherheit dazukommt? Engel zufolge sei die Arbeit manchmal demotivierend, weil das Team stetig kleiner werde und viele Aufgaben bei denselben Leuten liegen blieben.

Engels Bahnhofsarbeit war neben dem Bufdi stets ehrenamtlich. Tatsächlich ist sie im Dezember aus dem Vereinsvorstand ausgetreten und nach Leipzig gezogen: „Das liegt nicht an den Schwierigkeiten, mit denen wir gerade im Bahnhof zu tun haben, oder den rechten Strukturen und dem Vandalismus, daran habe ich mich gewöhnt. Ich wollte mal etwas anderes sehen als Vorpommern.“ Engel mag Anklam, hat viel Energie reingesteckt und will die Menschen nicht mit der Arbeit und der Belastung alleine lassen. Deswegen kommt sie gern zurück.

Demokratische Strukturen nicht ganz kaputt

Dieses Jahr will sie für den Demokratiebahnhof noch einen Schweiß-Workshop organisieren. Ob und wie das klappt, ist momentan unsicher. Engel weiß: „Es ist wichtig, dass der Ort bleibt, damit Kinder und Jugendliche weiterhin einen Anlaufpunkt haben – zum Rumhängen, um mit Leuten reden zu können und Hilfe zu bekommen, wenn sie welche brauchen.“

Nicht alle demokratischen Strukturen in Anklam sind kaputt. Im Februar gingen rund 200 Menschen auf die Straße, um nach den Correctiv-Recherchen gegen rechte Strukturen zu protestieren. Gesicht zu zeigen, bedeutet in Anklam viel. Campino von den Toten Hosen, Marteria und Feine Sahne Fischfilet spielten 2016 ein Konzert vor dem Bahnhof, 2.000 Menschen kamen. Zumindest zu dieser einen Veranstaltung. Auch zivilgesellschaftlich passiert etwas.

Engel kennt weitere Vereine, die sich vor Ort engagieren und weitere Anlaufstellen für Jugendliche in Anklam bieten, Jugendzentren aber eher nicht. Auch Wissenschaftler Borstel beobachtet, dass es vermehrt geförderte Trägerstrukturen gibt, die sich für demokratische Prozesse und Netzwerke engagieren. Das habe es früher nicht gegeben. Er erwähnt zivilgesellschaftliches Engagement vereinzelter Menschen in der Stadt, stellt aber klar, dass dieser Hoffnungsträger kein Selbstläufer ist.

Jugendliche wirklich erreichen

Für Anklam als Ort verschwindet mit dem Demokratiebahnhof also nicht nur ein Kultur- und Veranstaltungszentrum, es verschwindet ein Signal: Es gibt auch etwas anderes als rechte Räume, einen Ort, an dem man sich begegnet, statt andere auszugrenzen. Doch offensichtlich fehlen dem Demokratiebahnhof Geld, Unterstützung und Strukturen. „In den vergangenen Jahren hat der Verein auch selbst schon immer saniert“, sagt Engel.

Nur alles alleine stemmen geht eben nicht. Sie wäre schon mit einer Teilnutzung des Bahnhofes zufrieden oder wenn der Verein nach Sanierungsmaßnahmen wieder ins Bahnhofsgebäude könnte. Für den Verein wünsche sie sich, dass er einfach weiter Jugendarbeit machen könne, jemanden für die Stelle als Jugend- oder Sozialarbeiterin, eine Handvoll ehrenamtlicher Leute – und dann noch Jugendliche, die den Laden irgendwann übernehmen.

Ob der Demokratiebahnhof erhalten bleiben kann, ist in der Schwebe. Weder die Eigentümerin noch die Stadt haben auf Presseanfragen reagiert, ob und inwiefern sich diese Situation am besten lösen ließe und ob Interesse am Bestehen des Demokratiebahnhofs besteht.

Zuletzt wollte der Verein für seine Bildungsarbeit den zum Bahnhof gehörenden und öffentlich zugänglichen Garten nutzen. Tags darauf schickte die Eigentümerin die Polizei vorbei. Engel zufolge gibt es momentan Gespräche über neue Räumlichkeiten, die nutzbar, aber wiederum von Interessen Dritter abhängig seien. Doch um Jugendliche zu erreichen, sei ein zentraler Standort extrem wichtig, damit alle Zugang bekommen.

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