Juristischer Umgang mit Abtreibung: Rechtsprechung mit Schimmelansatz

Die Urteile zu Paragraf 219a basieren auf dem Strafrechtskommentar eines „Lebensschützers“ und eines umstrittenen Ex-BGH-Richters.

Eine Frau hat sich den Mund mit Tape verklebt, auf dem „219a“ steht. Sie hält ein Schild in der Hand mit der Aufschrift „§219a ist so 1933“

Das Gesetz stammt noch aus dem Nationalsozialismus Foto: imago/Ipon

Paragraf 219 a ist für den Sprecher der Staatsanwalt Wuppertal unsicheres Terrain. Fragt man Wolf-Tilman Baumert danach, wie der Paragraf zustande gekommen ist, sagt er mehrmals Dinge wie: „Das ist mir persönlich nicht bekannt, das müsste ich nachschlagen.“ Dabei ermittelte seine Behörde schon zweimal wegen unerlaubter „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche gegen die Wuppertaler Gynäkologin Eva Waldschütz.

Im Jahr 2007 wurde sie angezeigt, weil auf der Homepage ihrer Gemeinschaftspraxis Schwangerschaftsabbruch genannt wurde. Und 2015 erneut, weil ihr Name im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbruch in den Gelben Seiten auftauchte. Die Hintergründe des Paragrafen schienen dafür nicht relevant zu sein. Auf wessen Einschätzung sich die Rechtsprechung beruft, ist bei genauerem Hinsehen aber durchaus interessant.

Beim Wuppertaler Amtsgericht hat man nachgeschlagen. Als die Amtsrichterin 2008 das erste Urteil über eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen à 90 Euro gegen Waldschütz verfasste, argumentierte sie so, wie es das Landgericht Bayreuth zwei Jahre zuvor schon getan hatte: Paragraf 219 a solle verhindern, „dass die Abtreibung in der Öffentlichkeit als etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert wird“. Das Urteil aus Bayern von 2006, bei dem ein Arzt verwarnt wurde, gilt als wegweisend. Beide Gerichte haben die Formulierung ganz offensichtlich aus dem Strafrechtskommentar „Tröndle/Fischer“ übernommen.

„Wie beim Friseur die Schere, so liegt der Tröndle/Fischer“ bei jedem Staatsanwalt und jeder Richterin griffbereit“, sagt der Bremer Strafrechtsprofessor Felix Herzog. Seine Kollegin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, nennt Gründe: „Erscheint fast jedes Jahr in neuer Auflage, ist handlich, kompakt und bezahlbar.“

Prüfungen gerade so geschafft

Die deutsche Strafrechtscommunity gewöhnt sich im Studium an den Kommentar und möchte sich später nicht umstellen. Andere Kommentare fristen im täglichen Strafrechtsgeschäft eine Rand­existenz. Wer wissen will, wie ein Strafrechtsparagraf zu interpretieren ist oder wie üblicherweise geurteilt wird, greift zum „Tröndle/Fischer“. So findet eine Vereinheitlichung von Rechtsprechung statt, ohne dass in jedem Fall „höchstrichterlich“ geurteilt wurde. Was bei „Tröndle/Fischer“ steht, lässt sich nicht mehr so leicht aus der deutschen Juristenwelt schaffen. Die Wirkung des Kommentars, etwa bei den Paragrafen zum Schwangerschaftsabbruch, sei „toxisch“, sagt Strafrechtsprofessor Herzog.

Herbert Tröndle, Jahrgang 1919, war ausweislich seiner Todesanzeige Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse, des Infanteriesturmabzeichens und des Deutschen Kreuzes in Gold für seinen Einsatz im Zweiten Weltkrieg. Obwohl Tröndle sein Erstes Staatsexamen nur mit „vollbefriedigend“ bestand und damit heute keine Stelle bei Gericht bekommen würde, und seine mündliche Doktorprüfung erst im zweiten Anlauf mit „ausreichend“ schaffte, stieg er zum führenden westdeutschen Strafrechtskommentator auf.

Felix Herzog, Strafrechtsprofessor

„Wie beim Friseur die Schere, so liegt der Tröndle/Fischer“ bei jedem Staatsanwalt und jeder Richterin griffbereit“

Der Kommentar heißt seit 2008 zwar nur noch „Fischer“, ist aber weiterhin als „Tröndle/Fischer“ geläufig. Wer auf dem Cover steht, ist verantwortlich für den stetig aktualisierten Inhalt. Das Werk kostet derzeit 92 Euro und erscheint im C. H. Beck Verlag.

Der Münchner Verlag erweiterte seine rechtswissenschaftliche Abteilung nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten von 1933 erheblich. Noch im selben Jahr musste Otto Liebmann seinen renommierten juristischen Fachverlag weit unter Wert verkaufen, weil er Jude war. Er verkaufte an den Beck-Verlag. Der Historiker Stefan Rebenich nannte den Vorgang „Gewaltlose Arisierung“. Zum Liebmann’schen Verlagsprogramm gehörte auch ein Strafrechtskommentar, dessen erste Auflage Reichsgerichtsrat Otto Schwarz 1932 abgeschlossen hatte. Schwarz gab den Kommentar die ganze NS-Zeit hindurch heraus, im Nachkriegswestdeutschland übernahm Eduard Dreher dessen Bearbeitung. Dreher war ab 1937 NSDAP-Mitglied und wurde Staatsanwalt am Sondergericht in Innsbruck. In der Bundesrepublik machte er als Ministerialbeamter Karriere.

Ein fanatischer „Lebensschützer“

Mit Herbert Tröndle übernahm ab 1978 ein fanatischer „Lebensschützer“ das einflussreiche Geschäft des Kommentierens. Nun konnte der erzkonservative Katholik seine sittlichen Vorstellungen flächendeckend in der Justiz verbreiten. Bei einer Bundestagsanhörung wandte sich Tröndle 1992 gegen die Abschaffung von Paragraf 175 Strafgesetzbuch, der homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Eine Abschaffung würde es der „etablierten Schwulenszene“ erlauben, „die in der Pubertät und Adoleszenz befindlichen Jugendlichen für ihre Zwecke zu rekrutieren“. Kein Gesetzgeber sei „legitimiert, abweichendes Sexualverhalten dem normalen Sexualverhalten gleichzustellen“, argumentierte Tröndle.

Vor allem aber kämpfte er gegen eine Liberalisierung der Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch. Tröndle schrieb für das „Lebensschutzhandbuch“ des katholischen Bonifatiusverlags und engagierte sich an führender Stelle in der Juristen-Vereinigung Lebensrecht, einer Lobbyorganisation selbsternannter Lebensschützer.

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte bietet eine „Erste Hilfe“ für Ärzt*innen an, die nach § 219a StGB angezeigt wurden. Die Kontaktstelle beantwortet den Betroffenen erste Fragen, fachkundige Juristinnen bieten u.a. eine pro-bono-Beratung an und übernehmen auf Wunsch auch die Verteidigung der Ärzt*innen. Die Stelle ist unter 219a@freichetsrechte.org erreichbar.

Im Jahr 1992 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch, das die unterschiedlichen Regelungen in West- und Ostdeutschland zusammenbringen sollte. Das deutsche Parlament votierte für eine Fristenregelung mit Beratungspflicht, die der Frau die Entscheidung überließ. Tröndle argumentierte vehement dagegen: „Allein ein sogenannter Gewissensentscheid der Schwangeren soll letztlich darüber entscheiden, ob ein ungeborenes Kind weiterleben darf oder nicht, schrieb Tröndle etwa in einem Beitrag in dem 1993 erschienenen Buch „Das zumutbare Kind“. Schwangere Frauen würden sich „einer natürlichen Aufgabe“ entledigen und einer „durch ihr Vorverhalten“ – sprich: den Geschlechtsverkehr mit einem Mann – begründeten rechtlichen Pflicht nicht nachkommen.

Außerdem war für Tröndle klar, „daß immer schon ein signifikant hoher Teil der Schwangeren vom Partner und einem hilfsunwilligen Umfeld zur Abtreibung gedrängt oder sogar mit existentiellen Drohungen genötigt“ werde. Frauen, die eigenständige Entscheidungen treffen, existierten in Tröndles Weltbild offenbar nicht. Herbert Tröndle starb 2017 im Alter von 98 Jahren, die wichtige Randnummer 1 in seiner Kommentierung zu Paragraph 219a lebt weiter.

Sexistische Sprüche

Im Jahr 1999 stieg Thomas Fischer in den Kommentatorenjob mit ein, neben seiner Tätigkeit am Bundesgerichtshof, aus der er sich 2017 verabschiedete. Bekannt wurde der Jurist als Kolumnist bei der Zeit und als Teilnehmer bei Fernseh-Talkshows. Der Multitasker formuliert gerne zugespitzt, Frauen bedenkt er obendrein mit sexistischen Sprüchen.

Der Multitasker formuliert gerne zugespitzt, Frauen bedenkt er obendrein mit sexistischen Sprüchen

Jüngst beschrieb Fischer, wie er durch Fernsehberichte auf die #MeToo-Debatte aufmerksam wurde, „allesamt von sehr betroffen blickenden Moderatorinnen mit Push-up-Brüsten und auf mindestens 80-mm-Heels ‚anmoderiert‘.“

Die Zeit hat sich mittlerweile von ihm getrennt, allerdings erst, nachdem Fischer eine Journalistin des eigenen Hauses angegangen war, die zum Fall Dieter Wedel berichtet hatte. An der Kommentierung zum Paragrafen 219 a hat der misogyne Exrichter an der für Gerichte offenbar entscheidenden Stelle, nämlich gleich zu Beginn (Randziffer 1) des Kommentartextes, nichts verändert außer der Rechtschreibung.

Und dann ist da noch der Paragraf 219 a selbst. Weil die Nazis die Geburten deutscher, „arischer“ Kinder forcieren wollten, kam das „Werbeverbot“ für den Schwangerschaftsabbruch im Mai 1933 ins Strafgesetzbuch, nur wenige Monate nach ihrem Machtantritt. „Insofern unterlag der Gesetzgeber dem Standpunkt, dass bei Schwangeren oftmals erst […] der Entschluss zur Abtreibung geweckt oder doch zumindest erheblich gefördert würde“, schreibt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags in einem Papier mit dem Titel „Entstehungsgeschichte des § 219 a“ vom Dezember 2017.

Es ist diese Geschichte, sowohl der Entstehung, als auch der Kommentierung, die nun weitergeführt wird, wenn Befürworter*innen des Paragrafen 219 a aus den Reihen von CDU/CSU und AfD Frauen unterstellen, sie würden ihre Entscheidungen in der existenziellen Frage des Schwangerschaftsabbruchs von einem Spiegelstrich auf Praxis-Homepages abhängig machen. Und auf eben dieser Basis urteilt dann auch die Justiz.

Hinweis: In einer früheren Version des Textes hieß es über C.H. Beck: „Der Münchner Verlag verdankt seine rechtswissenschaftliche Abteilung der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten von 1933.“ Der Verlag verlegt allerdings bereits seit 1764 juristische Bücher. Wir haben den Satz gestrichen.

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