„Karlsgartenstraße 6 bleibt“: Kein Raum für Nachbarschaft

In Neukölln bieten Initiativen kostenlose Angebote für den Kiez. Doch die Zukunft ist ungewiss. Im „Nachbarschaftshaus“ soll die VHS einziehen.

Protestaktion gegen die Kündigung der Räume Karlsgartenstraße 6: eine Frau hält ein selbst gemaltes Schild bei einer Demo hoch: "Räume für uns" steht darauf

Ayşe Harman kämpft für die Zukunft des Migrantinnenvereins Foto: I­sau­m­ir Nascimento

BERLIN taz | Eine Frau steht auf einem Balkon, ihr Kind seitlich im Arm, die Hüfte abgeknickt, sodass es bequem auf ihrem Hüftknochen sitzen kann. Mit dem anderen Arm winkt sie den Frauen auf der Straße zu. Sie winken zurück. „Wir wollen bleiben!“, rufen sie. „Wir wollen bleiben“, ruft sie zurück.

In dem knallbunten Straßenumzug huscht Ayşe Harman nach vorn. Sie huscht immer schon schnell, Speedy Gonzales haben ihre Geschwister sie früher genannt. Ayşe Harman ist eine echte Neuköllnerin, sie wollte den Bezirk nie verlassen. Ihr Herz ist hier, sagt sie. Genau genommen 300 Meter Luftlinie vom Straßenumzug entfernt. Als sie 1980 als Teenager mit ihren Eltern dorthin zieht, steht da, wo heute die Neukölln Arkaden sind, noch das Gebäude der Stadtbücherei. „Die Stadtbücherei war mein Leben“, erzählt sie.

Die anderen Frauen in dem Umzug, viele mit bunten Masken, heißen Tülin, Aysun, Yael. Sie heißen Yili Rojas oder Mehtap, Selma oder Songül. Sie beleben die Straße, die Häuser, die Stadt. Als könnten ihre Stimmen bis ins Wohnzimmer der Wohnung flattern, in die Ayşe Harman als Teenager mit ihren Eltern zog, rufen sie in den Winterhimmel: „Karlsgartenstraße 6 bleibt. Wir lieben unser Haus.“

Plötzlich fahren zwei große Polizeitransporter vor. Behelmte und Polizisten in voller Montur springen heraus und bauen sich vor den Frauen auf. Der Polizist, mit dem Harman kurz zuvor noch gesprochen hatte, schaut verdutzt. Damit hatte niemand gerechnet.

Solidarität mit streikenden Textilarbeiterinnen

Ein paar Tage zuvor verteilt Ayşe Harman Tee an die Frauen im Kiezcafé in der Karlsgartenstraße 6. Eine andere Frau drückt ihnen gedruckte Postkarten in die Hand. Es ist Mitte Dezember, auf dem Tisch steht ein Teller mit Börek, Lebkuchen und Mandarinen. Heute trifft sich hier der Migrantinnenverein, die Frauen sind zusammengekommen, um ihre Solidarität mit den streikenden Textilarbeiterinnen in Urfa auszudrücken. Schnell schreiben sie ihre Grußworte auf die Postkarten, die sie ihnen in die Türkei schicken werden.

Seit 2021 ist die Zukunft für Initiativen wie dem Migrantinnenverein in dem Nachbarschaftshaus in der Karlsgartenstraße 6 ungewiss. Denn die Räumlichkeiten gehören zu der anliegenden Volkshochschule. Die hat mit zwei öffentlich geförderten Initiativen im Haus, der Schillerwerkstatt und den Stadtteilmüttern, einen Kooperationsvertrag geschlossen. Nun sollen im März 2024 die Räume im Erdgeschoss und ersten Stock renoviert und zu Verwaltungsräumen für die Volkshochschule umgebaut werden. Die Initiativen wünschen sich stattdessen eine dauerhafte Sicherung und Nutzungsmöglichkeit der Räumlichkeiten durch den Bezirk.

Yili Rojas nimmt ein DIN A3-Blatt in die Hand. Große Buchstaben bedecken die gesamte Fläche. Rojas positioniert sich im Raum, der Migrantinnenverein will eine Videobotschaft nach Urfa senden. Fix, aber nicht ohne kleine belustigte Zwischengespräche und Absprachen, wer wo stehen soll, sammeln sich 15 weitere Frauen an dessen anderen Ende und das Video wird gestartet. Die Frauen rufen den türkischen Arbeiterinnen ihre unterstützenden Worte zu. Sie zeigen: Ihr seid nicht allein. Wir sehen euch.

"To be selbstorganisiert" steht auf einem Demo-Schild

Selbstverwaltete Räume werden in Berlin immer knapper – auch in Neukölln. Dagegen regt sich Protest Foto: I­sau­m­ir Nascimento

Seit seiner Gründung 2005 setzt sich der Migantinnenverein in ganz Deutschland für Gleichberechtigung, Gewaltprävention und gegen Rassismus ein. Hier vertreten Migrantinnen sich selbst, öffnen geschützte Räume, tauschen Erfahrungen aus, designen Workshops, unternehmen Bildungsreisen und gestalten Diskussionsabende.

Transfer von Kenntnissen in mehreren Sprachen

„Wir haben gesehen, dass Frauen bei der Arbeit, in der Familie und der Gesellschaft benachteiligt werden“ erzählt Ayşe Harman. „Deswegen war Gewalt an Frauen eines unserer größten Themen.“ Dazu kam die ungleiche Bezahlung. „Ich habe auf der Arbeit mit einem Kollegen die gleiche Maschine bedient. Aber er hat 23 Prozent mehr verdient als ich“, sagt Harman.

„Wir haben eine Linolwerkstatt und eine Siebdruckwerkstatt“ sagt Rojas. „Wir haben auch eine Theatergruppe“, sagt Harman. „Wir haben einen Chor“, ergänzt eine andere Frau. „Wir haben eine offene Nähwerkstatt. Wir machen Workshops, wir machen Veranstaltungen.“

Seit Jahren bieten der Migrantinnenverein und andere Initiativen in der Karlsgartenstraße ein komplett kostenfreies Angebot für den Kiez. Hunderte Frauen nehmen daran teil. Dabei lernen sie voneinander, erzählt eine Frau, die mittlerweile selbst Kurse gibt, in denen sie vor Jahren selbst saß. „Es ist ein horizontaler Transfer von Kenntnissen. In mehreren Sprachen“, sagt Yili Rojas, die die Druckwerkstatt „Frauen* Machen Druck“ betreibt.

Yily Rojas, Migrantinnenverein

„Durch das Kennenlernen und die Zusammen­arbeit werden Vorurteile abgebaut“

Rojas trägt ihre Haare kurz, hat ein waches Gesicht und bewegt ihre Hände, während sie spricht. „Wir sind Türkinnen, Kurdinnen, aus verschiedenen südamerikanischen Ländern, aus afrikanischen Ländern, aus Israel, aus Palästina.“ Eine andere Frau wirft ein: „Wir sind offen für alle“ und Rojas nickt zustimmend. „Wenn Frauen, wenn Migrantinnen empowered sind, dann gibt es kein: Du nicht“, ist sie überzeugt. Durch das Kennenlernen und die Zusammenarbeit würden Vorurteile abgebaut. „Das braucht es nicht nur hier, sondern überall.“

Motive aus ihrem Leben

Ayşe Harman geht zu einem Regal und holt eine große, weiße Mappe heraus. Zuletzt haben die Frauen für eine Ausstellung im Käthe-Kollwitz-­Museum Drucke hergestellt, in denen sie sich mit dem Thema Frieden befasst haben. Motive aus ihrem Leben gegriffen, dazwischen abstrakte, kunstvoll geschwungene Linien und Formen.

„Hier sieht man eine Mutter in einem traditionellen Kleid, an der Hand hält sie ihr Kind.“ Der feurig-orangene Druck ist von Tülay Karataş. Darunter steht: Kadinlar Asla Savas Kuram Vermezler – „Frauen geben nie eine Theorie des Krieges. Das Bindalli, das sie trägt, ist ein traditionelles Kleid, das ab dem 19. Jahrhundert von muslimischen und jüdischen Frauen in Anatolien und auf dem Balkan zu besonderen Anlässen getragen wurde. Auf Türkisch bedeutet es wegen der aufwendigen Stickerei und den vergoldeten Metallgarn-Mustern „tausend Zweige“.

Auch die Karlsgartenstraße hat tausend Zweige. In drei Stockwerken lässt sich ihre Geschichte an den Wänden ablesen. Linoldrucke, Malereien, Collagen, Poster vergangener Veranstaltungen. Sie alle erzählen von Befreiung, manche von Liebe, andere von Scham. In ihnen lassen sich Spuren internationaler Zusammenschlüsse finden, entfernte Orte, nahe Erinnerungen, verwobene Lieder und gemeinsame Mahlzeiten.

Auf Seidenpapier entlang der Decke sind La Catrinas und andere Motive des mexikanischen Totentags aufgehängt, an dem die Frauen in diesem Jahr den Opfern in Nahost gedachten. Auf Plakaten sieht man in Comics oder Cartoons die Bemühungen, ein stabiles Leben aufzubauen angesichts verunsichernder Aufenthaltsbestimmungen und Bleibepolitiken.

Die Frage nach politischer Anerkennung

Wie auch der Migrantinnenverein werden 77 Prozent der zivilgesellschaftlichen Kulturorganisationen in Deutschland ehrenamtlich geführt. Dieses Engagement findet nach der Arbeit statt, an den Wochenenden, zwischen Türen, auf der Straße, im Kiez. Bei so viel unbezahlter und selbst organisierter Arbeit für das gesellschaftliche Miteinander stellt sich die Frage nach der politischen Anerkennung. Doch während der Bezirk mit der Schillerwerkstatt über die Nutzung der Räumlichkeiten kommuniziert hat, wurde der Migrantinnenverein nicht in die Gespräche einbezogen, kritisiert Ayşe Harman.

Die Raumsituation für ehrenamtliche Initiativen in Berlin ist seit Jahren schwierig. Die wenigen Räume, die es gibt, müssten eigentlich geschützt werden. Denn neue Räume sind Mangelware. Auch weil sich die Preise für Bauland in den vergangenen 15 Jahren verachtfacht haben: Waren es 2008 noch rund 200 Euro pro Quadratmeter, lagen sie 2022 schon bei rund 1.700 Euro.

Bei so hohen Bodenpreisen wird weniger in den Bau öffentlicher Gebäude investiert. Stattdessen entstehen allenthalben Bürogebäude, Luxus- und Eigentumswohnungen. Im aktuellen Koalitionsvertrag betonen CDU und SPD zwar, dass sie grundsätzlich keine landeseigenen Grundstücke oder Wohnungen verkaufen wollen. Doch um Räume zivilgesellschaftlicher Organisationen wie in der Karlsgartenstraße zu erhalten, wird das nicht reichen.

An dem Tag, an dem die Polizisten aus den Wannen springen, um sich vor dem Straßenumzug der Frauen aus der Karlsgartenstraße aufzubauen, muss auch das Projekt Berlin Mondiale seine Schlüssel abgeben. Vor drei Jahren hatte die Initiative ein brachliegendes Grundstück am Dammweg in Neukölln übernommen. In den vergangenen drei Jahren haben sie dort transkulturelle Festivals organisiert, künstlerische Angebote geschaffen, eine intergenerationale Sozialstruktur aufbaut. Nun will der Bezirk dort einen „Zukunftskiez“ mit Angeboten des Bezirksamts errichten. Wann das passiert, ist unklar. Berlin Mondiale wird nicht in die Gespräche involviert.

Auch an das Bezirksamt schreiben sie

Den Linken-Bezirksverordneten Philip Dehne macht das fassungslos. Denn erst im November wurde in der Bezirksverordneten­versammlung mehrheitlich die Fortsetzung von Berlin Mondiale und weiterer Projekte am Campus Dammweg beschlossen. „Vier Wochen später werden genau diese Projekte aufgefordert, ihre Schlüssel abzugeben und zum Ende des Jahres auszuziehen“, kritisiert Dehne.

In der Karlsgartenstraße werden derweil nicht nur Postkarten an die streikenden Textilarbeiterinnen in der Türkei geschickt. Auch an das Bezirksamt schreiben sie, mit der Bitte, dass sie bleiben dürfen. Währenddessen zieht bereits eine andere Initiative, die Nomads, eine Leinwand hoch.

„Wir gehören in Russland zu den dort als kleine indigene Nationalität lebenden Buryaten“, sagt Seseg Jigjitova. Viele Buryaten hatten sich zu Beginn des Krieges der russischen Armee angeschlossen. Die Initiative hielt dagegen eine Antikriegsdemonstration vor der russischen Botschaft ab. „Es war so wichtig für uns, diesen Raum hier zu finden, um uns zusammenzuschließen und uns zu organisieren“, sagt sie. Queere und Transaktivisten aus Russland und Kirgistan, geflohene Menschen, die den Krieg ablehnen, fänden hier ihren Platz.

Auf dem Straßenumzug stehen die Polizisten mit ihren Schutzhelmen noch immer wie eine Wand vor den Frauen. Der Polizist, mit dem Ayşe Harman gesprochen hatte, geht schnell zu seinen Kollegen. „Das ist ein Missverständnis“, sagt er. „Das ist kein illegaler Umzug. Der ist angemeldet.“ Die Polizisten gehen zurück zum Transporter. Die Frauen wandern weiter und lachen.

Am Rathaus Neukölln angekommen, flattern Tauben von der Weihnachtsbeleuchtung aus über ihre Köpfe, aufgeschreckt durch ein Auto, das über den Platz fährt. Eine der Frauen stellt eine Musikbox auf. Der Polizist entschuldigt sich für seine Kollegen: „Tut mir wirklich leid. Das hätte nicht passieren dürfen.“ Ayşe winkt ab. Das sei okay. Nur die Trauer, dass sie ihr Haus verlieren, ihre Wut, die müssten die Frauen jetzt raustanzen. Aus der Musikbox läuft Stayin’ Alive von den Bee Gees. Die Frauen klatschen in die Hände. „Karlsgartenstraße 6 bleibt. Wir lieben unser Haus!“, rufen sie in die Nacht.

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