Ken-Kesey-Klassiker Gefängnis: Epos des individuellen Widerstands

Das Gefangenentheater aufBruch spielt „Einer flog über das Kuckucksnest“. Die Inszenierung in der JVA Plötzensee ist atmosphärisch dicht.

Eine Szene aus dem Stück

Das Gefangenenensemble in Aktion Foto: Thomas Aurin

Aufstand, Tod oder Flucht – das sind die wesentlichen Optionen eines die Freiheit liebenden Menschen in Systemen, die es mit den Freiheiten für die vielen nicht so doll haben. Ken Kesey, ein Prä-Hippie aus der Bay Area um San Francisco, fasste diese drei Optionen schon 1962 in seinem grandiosen Irrenhaus-Roman „Einer flog über das Kuckucksnest“ zusammen. Der eine Insasse der Anstalt nimmt sich selbst das Leben, weil er es nicht aushält, der Überinstanz seiner ihn liebenden Mutter permanent nicht gerecht zu werden.

Der andere, der den Aufstand probt – und später im gleichnamigen Filmhit von Jack Nicholson verkörpert wird –, endet zunächst nach disziplinierender Hirnoperation als menschliches Wrack auf der Liege. Von dort wird er gnädigerweise von seinem besten Kumpel ins Jenseits befördert. Und der, ein stolzer, lange geknechteter, aber nicht völlig erstickter Abkömmling der Ureinwohner des Landes, sucht schließlich erfolgreich das Weite.

Dieses Epos des individuellen Widerstands, das auch von zarten solidarischen Banden zu berichten weiß, wird aktuell in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee gespielt. Von Laien, von dortigen Insassen, von Menschen, die in ihrem Freiheitsdrang, der auch ein Zerstörungs- oder Selbstzerstörungsdrang sein kann, mit den Regeln der anderen in Konflikt gekommen sind – und für die man natürlich hofft, dass sie nicht jenen Arten von Gruppendisziplinierungen ausgesetzt sind, wie sie Kesey in seinem nur halbfiktiven Werk beschrieben hat. Er selbst kannte ja psychiatrische Anstalten als Aushilfspfleger von innen. Später gründete er eine Kommune, aus der unter anderem die „Grateful Dead“ hervorgingen.

Schlager und Kirchenlied

Puristen hätten sich für eine Inszenierung des Romans natürlich den einen oder anderen Song der „Dead“ gewünscht. Aber die Crew um Regisseur Peter Atanassow und die Mu­si­ke­r*in­nen Alexandra Rossmann und Vsevolod Silkin wildert lieber in den Gefilden von Schlager und Kirchenlied. Auch von dort hat sie aber einen passablen Soundtrack mitgebracht.

„Einer flog über das Kuckucksnest“: Wieder am 11., 13., 14., 15., 18. und 19. Dezember, JVA Plötzensee, www.gefaengnistheater.de

Wenn Stationsschwester Ratched (famos gespielt von Steven Mädel) die Insassen sedieren will, stimmt sie das Lied vom Sandmännchen an. McMurphy, der latent arbeitsscheue Lebemann und Glücksspieler, der die Station aufzumischen beschließt, wird hingegen mit dem Heinz Rühmann-Klassiker „Ich brech die Herzen der stolzesten Fraun“ eingeführt. Als Höhepunkt der Anpassung an die herrschende Ordnung erklingt „Danke für diesen guten Morgen“ – geboren als Kirchenchoral, unsterblich geworden auch für atheistische Theatergänger einst an der Volksbühne unter Christoph Marthaler. Und jetzt dargeboten von einem neunköpfigen Männerchor.

Das Chorische, ob gesungen, ob gesprochen, ist ohnehin das Markenzeichen von Regisseur Atanassow. Auch in dieser Inszenierung ist es ein prägendes Element. Unterdrücker und Unterdrückte, Personal, rebellische Insassen und Duckmäuser verschmelzen dann zu einer kollektiven Stimme. Das mag irritieren. Es zeigt aber auch, dass alle, was immer auch ihre jeweiligen sozialen Rollen sein mögen, Fleisch vom gleichen Fleische sind. Kein schlechter Kunstgriff also.

Wie es ohnehin viel Gutes zu berichten gibt. Das Ensemble weiß nicht nur als Chor zu überzeugen. Es hat auch viel Raum, die einzelnen Figuren individuell auszuspielen. Nehad Fandi etwa lässt als so lässiger wie rebellischer Cowboy McMurphy fast Jack Nicholson vergessen. Erik ist als Häuptling Bromden, der sich erst im Besenschrank versteckt und dann vom fegenden zum tragenden Charakter wird, eine Wucht. Mädel legt als Ratched eine Charakterstudie hin, die nicht zur Karikatur verrutscht.

Proben nur zwischen 16 und 20 Uhr

So könnte man jeden einzelnen durchgehen. Was hier mit Laien in nur sieben Wochen Probenzeit erreicht wurde, ist enorm. Erst recht, wenn man bedenkt, dass die meisten Spieler vormittags noch in der Anstalt arbeiten, erst zwischen 16 und 20 Uhr Zeit für die Proben haben und außerdem Texte und Lieder auswendig lernen müssen.

Auch der Raum ist geschickt gestaltet. Bühnenbildner Holger Syrbe hat eine Art Wachturm für die Stationsschwester installiert. Ihre massige Figur wirft dunkle Schatten an die Rückwand. Zu ihren Füßen gestalten die anderen Spieler mit Dreiersitzen immer wieder den Spielraum neu. Eine sphärische Ebene fügt der Videokünstler Pascal Rehnolt mit grobkörnigen Schwarz-Weiß-Videos hinzu.

Regisseur Atanassov erzählt die Geschichte der Rebellion in der Anstalt stringent. Er lässt aber auch genug Platz für Zwischentöne. Und weil das Berliner Theaterpublikum weiß, was gut zu werden verspricht, waren die Tickets für die ersten Vorstellungen im Onlineshop innerhalb einer Stunde vergriffen. Da kann man nur nach weiteren Vorstellungsserien rufen, am liebsten bis hin zum frühesten Entlassungstermin eines der Darsteller. Angesichts der mittlerweile erreichten Güte der Inszenierungen fragt man sich ohnehin, warum es bislang keine Show des Gefangenenensembles der JVA Plötzensee oder der JVA Tegel jemals zum Theatertreffen geschafft hat? Jury, bitte mal einschließen lassen. Man kommt auch wieder raus.

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