Kinder- und Jugendhilfe in Berlin: Das System funktioniert nicht

Der erste selbst organisierte Kinder- und Jugendhilfegipfel macht auf die Probleme durch Unterfinanzierung und zu wenig Personal aufmerksam.

Protestkundgebung gegen die Situation im Jugendhilfesystem

Schon im Februar gab es  Protest gegen die katastrophale Situation im Jugendhilfesystem Foto: Stefan Boness

BERLIN taz | Ein Jugendlicher springt am Dienstagvormittag auf die Bühne vor dem Roten Rathaus, schnappt sich ein Mikrofon und ruft: „Unsere erste Forderung ist mehr Personal.“ Die Menschen im Publikum, manche in dicken Jacken und mit Mützen, klatschen stürmisch. Es ist der erste „Kinder- und Jugendhilfegipfel“, organisiert von der AG Weiße Fahnen und unterstützt von der Gewerkschaft GEW und dem Berufsverband für Soziale Arbeit DBSH.

Es ist ein Aufschrei: Seit Jahren berichten Jugendämter von Personalnot, nicht ausreichenden Personalschlüsseln, von Überlastung. Von den Protestierenden mitgebrachte laminierte Zeitungsartikel zeigen die jahrelangen Versuche, auf die Probleme im System aufmerksam zu machen. Schon 2011 wurde immer wieder über Geldverteilung und Personalbedarf gestritten. Dann kamen Pandemie und Kriege. Die Situation hat sich nicht verbessert. Im Gegenteil.

„Es gibt immer mehr Kürzungen entgegen unseren Rufen, dass der Bedarf steigt und dass wir mehr finanzielle Mittel aufbringen müssen, um auf lange Sicht Linderung zu schaffen“, sagt Verena Bieler vom DBSH. Sie hat den Gipfel mitorganisiert, nach der Arbeit.

Der Gipfel soll die Vernetzung zwischen Adres­sa­t:in­nen und Sozialarbeitenden fördern, es geht um die Herstellung einer Sorgekultur, die das „dysfunktionale Kinder- und Jugendhilfesystem“ zu überwinden weiß. Dafür sind Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen der Jugendhilfe gekommen: aus dem Jugendamt, aus stationären und teilstationären Einrichtungen, aus der offenen Jugendhilfe. Sie tragen Ergebnisse zusammen, die im Anschluss Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) übergeben werden.

Eine vom Staat produzierte Armut

„Die Situation ist nicht gut, aber wir machen trotzdem weiter. Weil es um Menschen geht, die das benötigen. Hier bekommen alle den Druck von der Ökonomisierung der sozialen Arbeit mit. Was uns natürlich mächtig gegen den Strich geht“, ruft Verena Bieler ins Mikrofon.

Besonders betroffen von der Ökonomisierung sind die Adres­sa­t:in­nen der Jugendhilfe. Jane Rieck arbeitet beim freien Träger Trialog Jugendhilfe im Projekt „Queeres Leben“. Er arbeitet viel mit Jugendlichen, die sich nach der Jugendhilfe, ab dem Alter von 21 Jahren, im Übergang befinden, eine Zeit, die nicht hinreichend reguliert und ökonomisch unterfüttert ist. Bis zum Beginn dieses Jahres mussten Kinder in der Jugendhilfe, die sich etwas dazuverdienen wollten, aber noch Geld vom Staat bekamen, einen Großteil dieses Geldes an die Jugendhilfe abgeben. Sparen für die Zeit nach der Jugendhilfe, das ging nicht.

Es ist eine vom Staat produzierte Armut, die viele Sozialarbeitende auch aus dem System herausspülen. Die, die bleiben, arbeiten unter belastenden Bedingungen: „Wie sollen wir gut miteinander sorgen, wenn jemand zum Jugendamt kommt und die Sozialarbeiterin im Zweifel noch nicht einmal etwas gegessen hat, weil sie keine Zeit hat?“, fragt Verena Bieler.

Anders als Jugendliche, die von ihren Familien emotional und ökonomisch versorgt werden, sind sogenannte Careleaver, junge Menschen, die sich im Übergang befinden, nach Vollendung der Jugendhilfe oft auf sich allein gestellt. Bei Freunden pennen, in Notunterkünfte gehen, durch die Nacht laufen, weil es keinen Schlafplatz gib. Studien und Berichte deuten darauf hin, dass die „Careleaver“ im Vergleich zu Gleichaltrigen ein höheres Risiko haben, obdachlos zu werden.

Anfang für eine Art Gesamtplan

Jugendhilfe ist mit Fragen um Armut und Klasse verknüpft, mit Rassismus, sozialer Ungleichheit. Mehr und mehr Alleinerziehende können unter neoliberalen Bedingungen ihre Kinder nicht mehr versorgen, immer mehr junge Menschen müssen aus dem globalen Süden vor Krieg und Klimakatastrophen flüchten. Auf diese komplexen gesellschaftlichen Lagen reagiert die Jugendhilfe.

Doch die Politik reagiere seit Jahren immer nur punktuell, sagt Fabian Schmidt von der GEW. „Dabei brauchen wir in einer wachsenden Stadt mit wachsenden Bedarfen, wo es benachteiligte Kinder gibt und die Ungleichheit zwischen Arm und Reich so groß ist, einen Gesamtplan, wie die Jugendhilfe in der Zukunft damit strukturell umgehen kann.“

Für solch einen Art Gesamtplan soll der Jugendhilfegipfel ein Anfang sein. Mit weniger Zeit für Bürokratie und mehr Zeit für die Menschen, mehr Personal, mehr Geld und einer Sorgekultur, die allen gerecht wird.

Am Ende der Veranstaltung werden die Ergebnisse Staatssekretär Liecke übergeben. Verabredet wird ein Auswertungsgespräch in diesem Jahr. Dann soll verabredet werden, ob es einen gemeinsamen Fachtag gibt, im ersten Quartal oder in der ersten Jahreshälfte des nächsten Jahres.

Bis tatsächlich mehr Geld und mehr Personal ins System gespült wird, bleibt es bei den Menschen innerhalb der Jugendhilfe, die Beziehungen und Verhältnisse möglichst sorgend zu gestalten. „Vielleicht ist heute ein kleiner Leuchtturm für die Republik“, sagt Verena Bieler am Ende der Veranstaltung. „Dass wir uns vernetzen und stark machen für die Belange, die es gibt. Wir wollen ein Signal senden: Es ist machbar.“

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