Kindermorde und der NSU: Der Tote von Jena-Lobeda

1993 wurde die Leiche des neunjährigen Bernd B. gefunden. Eine Soko prüft, ob NSU-Mitglied Uwe Böhnhardt etwas damit zu tun hatte.

Jena Lobeda: Hochhäuser im Schatten und Licht

Bei seinen Großeltern in Jena Lobeda kam Bernd B. nie an Foto: imago/Bild 13

BERLIN taz | Es ist der 6. Juli 1993, als Bernd B. nach der Schule nicht mehr nach Hause kommt. Schon in den Vorwochen hatte der Neunjährige mit Mitschülern und Lehrern Ärger. Nun steht an diesem Dienstagnachmittag nur noch sein Schulranzen vor der Haustür seiner Familie im Jenaer Westviertel.

Bernd B. selbst streift derweil durch die Stadt, in blauer Strickjacke und Jeans. So werden Zeugen es später schildern. Eine Schulfreundin trifft B., sagt, er werde gesucht. Der Junge geht trotzdem nicht nach Hause. Am späten Abend, gegen 21.30 Uhr, steigt er in einen Bus. Er fährt raus aus der Stadt, nach Jena-Lobeda, in eine Hochhausgegend. Hier wohnen B.s Großeltern.

Im Bus kommt der Junge mit einem älteren Ehepaar ins Gespräch. Was er denn so spät allein hier mache, fragen sie. B. klagt über die Schule, antwortet aber, sie müssten sich nicht sorgen. Dann steigt er aus und läuft zu dem Hochhaus seiner Großeltern.

Es ist der Moment, in dem Bernd B.s Spur endet. Seine Eltern fahren da bereits verzweifelt durch die Stadt, auf der Suche nach ihrem Sohn. Die Polizei ist ebenfalls unterwegs. Mit dabei hat sie Fotos von B.: Ein ernst dreinschauender Junge mit kurzen, braunen Haaren ist darauf zu sehen.

Ein „gewaltsamer Tod“

12 Tage später finden spielende Kinder den Leichnam des Neunjährigen unweit des Hochhauses seiner Großeltern, in einem Gebüsch an der Saale. Die Polizei spricht von einem „gewaltsamen Tod“. Lokalzeitungen berichten über Hinweise auf sexuellen Missbrauch.

Bis heute ist der Mord an Bernd B. ungeklärt. Nun aber gerät er, 23 Jahre später, schlagartig wieder in den Fokus. Denn gerade erst fanden Ermittler am Fundort einer anderen Kinderleiche, der 2001 ermordeten Peggy K. aus dem bayrischen Lichtenberg, eine aufsehenerregende DNA-Spur: die des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt. Und der stand schon einmal im Verdacht, mit dem Mord an Bernd B. etwas zu tun zu haben.

Neben der Leiche von Bernd B. lag ein Bootsmotor. Er gehörte einem Kumpel von Böhnhardt

Nun ist die Frage: Verübte zumindest Böhnhardt noch weitere Verbrechen als die bisher bekannten zehn NSU-Morde, die zwei Anschläge und 15 Raubüberfälle? Wird dieser Verbrechenskomplex noch monströser?

Seit vergangener Woche rollt eine Sonderkommission, 15 Ermittler stark, den Fall Bernd B. neu auf. Alle Akten gehen sie nochmals durch, DNA-Spuren werden abgeglichen. Auch zwei weitere ungeklärte Kindesmorde aus der Region werden noch einmal geprüft: der an der zehnjährigen Jenaerin Ramona K. 1996 und der an der gleichaltrigen Stephanie D. aus dem benachbarten Weimar 1991. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat angeordnet: „Das müssen wir alles viel, viel gründlicher betrachten.“

„Wie eine Bombe“

Im Juli 1993, als Bernd B. ermordet wird, lebt auch Uwe Böhnhardt in Jena-Lobeda. Mit seinen Eltern, einem Ingenieur und einer Lehrerin, wohnt er in einem der dortigen Plattenbauten. Jetzt, mit 15 Jahren, bewegt er sich bereits in rechtsextremen Cliquen, fällt durch Diebstähle und Gewalttaten auf. „Wie eine Bombe“ sei Böhnhardt damals gewesen, sagte ein früherer Bekannter einmal der Polizei. Im Februar 1993 landet Böhnhardt erstmals für vier Monate in U-Haft.

Einer seiner Kumpels damals: der 17-jährige Enrico T. Die beiden kennen sich von der Schule, fahren zusammen Moped. Auch T. geht auf Diebestouren, einmal soll er mit einem Bagger in eine Bankfiliale gefahren sein. Im Juli 1993 gerät Enrico T. plötzlich unter einen schweren Verdacht: Er könnte der Mörder von Bernd B. sein.

Ganz in der Nähe der Leiche des Jungen hatten Ermittler einen weißen Außenbordmotor gefunden. Es war der Motor von T.s kleinem Ruderboot, das lange Zeit 500 Meter stromaufwärts vom Tatort lag. Der Jugendliche wird vernommen, er weist den Verdacht von sich. Das Boot und der Motor seien ihm bereits zuvor geklaut worden. Er habe keine Ahnung, wie der Motor an den Leichenfundort kam.

Tatsächlich findet die Polizei keine weiteren Beweise gegen Enrico T. Die Ermittler weiten die Fahndung aus. Taucher steigen in die Saale, über eine Talsperre wird der Wasserspiegel abgesenkt, um nach dem weiter verschollenen Boot zu suchen. Auf einem Spielplatz, in einem „Hexenhaus“, finden Kinder das Schlüsselbund von B. 2006 gibt es noch einmal Razzien in Jena und Berlin. 4.000 Personen wird die Polizei am Ende überprüft haben, ob sie etwas mit dem Mord zu tun haben.

Besuch vom Bundeskriminalamt

Alles vergebens – bis Enrico T. im April 2012 Besuch vom Bundeskriminalamt bekommt. Ein halbes Jahr zuvor waren der „Nationalsozialistische Untergrund“ und seine zehn Morde aufgeflogen. Eines der Mitglieder: Uwe Böhnhardt.

Die BKA-Ermittler wollen von T. wissen, ob es stimme, dass er daran beteiligt war, dem NSU-Trio ihre Mordwaffe zu liefern, die Ceska-83. T. bestreitet das. Ganz am Ende der Vernehmung aber sagt er, er wolle „noch etwas ergänzen“. Und zwar zur Sache mit dem Mord an Bernd B., dessen er fälschlich verdächtigt worden sei.

„Nachdem ich von den Taten des Trios in der Presse erfahren habe, vermute ich, dass der Uwe Böhnhardt etwas damit zu tun hat“, sagt T. plötzlich. Dieser habe gewusst, wo das Boot damals lag. „Es kann also sein, dass der mir etwas in die Schuhe schieben wollte, weil wir uns irgendwann nicht mehr so gut verstanden haben.“ Schon lange trage er diese Geschichte mit sich herum, sagt T. „Ich will das hier sagen, damit sich jemand mal Gedanken macht.“

Böhnhardt, verwickelt in den Mord an Bernd B.? Für die Ermittler hätten sich nun Puzzleteile zusammenschieben können. Als der NSU 2011 aufflog, entdeckte die Polizei in dessen letztem Unterschlupf eine Festplatte. Darauf fanden sich auch vereinzelte Kinderpornofotos. Im Umfeld des NSU bewegten sich Neonazis, die später wegen Straftaten gegen Kinder verurteilt wurden. Der prominenteste: Tino Brandt, einst Anführer des „Thüringer Heimatschutzes“, in dem auch das spätere NSU-Trio mitmischte. Heute sitzt er wegen Kindesmissbrauch in Haft.

Eine Garage in der Nähe des Fundorts

Die Ermittler prüfen nach der Aussage von Enrico T. den Fall Bernd B. erneut, gehen DNA-Spuren durch. Sie stoßen auf eine Garage, ganz in der Nähe des Leichenfundorts, die auch von Böhnhardt genutzt wurde. „Ein Tatverdacht gegen Böhnhardt hatte sich jedoch nicht erhärtet“, sagt heute der Geraer Oberstaatsanwalt Steffen Flieger.

Dennoch wird die Spur nun noch mal aufgenommen. Denn für den Fund von Böhnhardts DNA an dem Ort, wo die tote Peggy K. in einem Wald unweit von Thüringen gefunden worden war, schließt inzwischen selbst BKA-Chef Holger Münch eine Verwechslung aus. Die Soko zum Fall Peggy wurde deshalb gerade erst von 30 auf 40 Ermittler aufgestockt. Sie prüfen nun: Wie kam die Böhnhardt-DNA an den Leichenfundort? Hatte Böhnhardt Bezüge nach Lichtenberg, zur Familie K.? So werden etwa alle Daten der NSU-Ermittlergruppe derzeit mit denen der Soko Peggy abgeglichen.

Auch alte Hinweise geraten wieder in den Blick. Schon kurz nach dem Verschwinden ihrer Tochter erhielt Peggys Mutter einen Brief. Ein Unbekannter beschimpfte sie: Sie habe so ein „arisches Kind wie Peggy“ nicht verdient. Die Mutter, liiert mit einem Türken, hatte sich zuvor dem Islam zugewandt. „Wir sind dem damals nachgegangen. Der Brief gewinnt jetzt aber wieder an Bedeutung“, sagt ein Sprecher der Polizei Oberfranken.

Oder die Sache mit der Waldhütte. Der NSU-Opferanwalt Yavuz Narin behauptet, Neonazis hätten sich in der Nähe des Leichenfundorts von Peggy K. in einer solchen getroffen. Einer von ihnen sei gewesen: der Jenaer Enrico T. Einer seiner früheren Bekannten sagte einmal der Polizei, T. habe „auf kleine Kinder gestanden“.

Auch für den Fall Bernd B. werden diese Aussagen nun noch einmal geprüft. „Wir gehen allen Hinweisen nach“, sagt ein Sprecher der Thüringer Landespolizeidirektion. Die Ermittlungen aber seien „höchst komplex“. Mit schnellen Ergebnissen sei nicht zu rechnen.

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