Kirchentags-Blog: "Ihr habt die Bibel gefälscht"

Reinfried Musch ist taz-Controller und überzeugter Marxist. Mit Christen ist er zum Ökumenischen Kirchentag geradelt. Auf taz.de bloggt er, ob ihm in München Lichter aufgehen - und welche.

Das Motto des Münchener Kirchentags: "Damit ihr Hoffnung habt". Bild: dashuber

15. Mai: Es bleiben die Bücher

Neun Jahre haben sie ihn ertragen, beobachtet, zu verstehen gesucht, den Fremden auf der Insel. Er trieb sie mit der Peitsche auseinander beim Beischlaf, setzte seine Regeln mit Gewalt durch gegen die Tradition der Vormütter und Vorväter und gab sich als der Allwissende. Als Gott.

Dann fasste ein Bewohner den Mut und erschlug ihn, berichtet mein Ältester von einer Arte-Sendung. Wenn der Mensch von Gott beseelt ist, dann wähnt er sich über allen und stellt sich über alles - ebenso wie ohne ihn?

Zum Kirchentag 2010 in München bietet die taz ein Kirchentags-Dossier mit Artikeln zum Thema an. Das PDF-Dokument bekommen Sie hier als kostenlosen Download.

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Zum Kirchentag wird es auch drei Sonderausgaben in der taz geben. Informieren Sie sich hier über die Inhalte.

Die Leute fragen, was induktiv heißt. "Die Bibel induktiv studieren", steht in kleiner Schrift an der Box M 11. Es ist nicht unsere Klientel, erzählt die Standfrau, aber das muss man auch praktisch erfahren. Die Leute, die sich interessieren, diktieren überheblich: Seid Ihr Katholiken? Wenn nicht, dann seid ihr abgefallen. Ihr habt die Bibel gefälscht in Eurem Angebot. Was seid ihr eigentlich? Aber sie wollen das Wort gar nicht verstehen. Ökumene ist für sie nicht Liebe, Kirchentag nicht Begegnung. Sie sprechen von der Wahrhaftigkeit der Blutrituale bei der täglichern Auferstehung Jesu. Sind wir im Mittelalter?

Wir bieten Methode zum Bibelstudium an, um Interessierten zu helfen, das Wort zu lesen und zu verstehen. Das ist nötig bei allen Schriften. Das Hiob-Buch wird in unsrem Angebot interpretiert. Aber ein Blick von da aus durch die Bibel - das haben wir nicht.

Mein Sohn beschäftigt sich damit und sein Doktorvater schreibt dazu (Greg Harris, the darkness and the glory). Und Müller aus Regensburg. Ihm gelingt ein übersichtliches Interviewbuch zur Bibel bei Herder (Gott und seine Geschichte. Ein Gespräch über die Bibel), obwohl er in drei enormen Bänden Glaube wissenschaftlich nach allen Richtungen gewendet hat (Glauben, Fragen, Denken).

Hartmann und Schuller u.a. untersuchen den Ersten 30jährigen Krieg doppelt: als schlimmsten Religionskrieg und im Friedensschluss von Augsburg als Geburtsstunde eines konfessionell ausbalancierten und politisch föderalen Europas. Eine lehrreiche frühe EU – Vorlage?

Ein Jahrmarkt, werten die Quartierseltern von Salim, kein Ort, nirgends, außer vielleicht Sant Egidio, ergänzt die Begleiterin. Der Gründer habe nicht salbungsvoll von Frieden und Liebe wie die Werbe-Bärchen gesprochen, denen beides unter Mautzen aus dem Bauch springt. Bayern München gewinnt bei ausgezeichneter Brotzeit im Reimer Restaurant den Pokal. Das war der (vorletzte) Tag.

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14. Mai: Die Ökumene steht

Jetzt steht alles, was rollte und viel mehr. Wenn die, die sich hier ausstellen, rollten, wäre die Ökumene nicht zu übersehen. Die Gespräche wären nicht zu erzwingen, sondern kämen mit der Zeit und wechselten zwangsläufig mit dem Fahren in der Landschaft. Messemiete, Material- und Standkosten würden jedem ein Rad der Bremer Manufaktur ermöglichen. Was es hülfe: in jedem Fall eine Öffnung zu sich, der Welt und dem Himmel, aus dem es beständig tropft.

Der Kirchentag stillt meinen Hunger nicht, simst die Begleiterin. Ich kann nicht erkennen, ob hier jemand Hunger hat. Ob er dann hierher käme? Wie sollten solche Hallen für geistig/geistlich Hungernde aussehen? Bileam fällt dem Schweitzer von M10 (Christen begegnen Moslems) ein. Der sei gerufen worden, um Israel zu verfluchen und auszuschalten. Sein Esel sperrte sich beständig auf dem Weg, wie sehr er in auch peitschte. Warum schlägst du mich, fragte er den Weisen an der engsten Wegstelle vor dem Engel mit dem Schwert, gegen den Weisen gerichtet. Da zeige sich das Wirken einer übermächtigen Macht. Stehe die nicht hinter allem?

1914 stand sie jedenfalls nicht. Da war es Gandhi, der tausende auf Versöhnungsmärsche brachte zum öffentlichen und angekündigten Brechen eines schlechten Gesetzes in Süd-Afrika. In A2 wird gerade eine Resolution an die Regierung verabschiedet. Vor A3 steht ein stämmiger Ordner mit dem Schild "Saal überfüllt". Im Saal rufen etwa 100 Teilnehmer "wir wollen rein". Die Ordnerinnen beanspruchen das Absperrseil für sich.

Auf dem Hof zwischen A und B stehen etwa 300 Gäste unter dem Lautsprecher von Moltmann und Küng. Das Kirchenvolk sind die Laien, erklärt einer von beiden gerade. Sie wurden als Institut immer von den Funktionären der Kirchen ausgeschlossen. Sie haben keine adäquate Vertretung. Beifall innen und außen.

Zwei Stunden vorher hatte ein Podium Bolivien unter Morales und durchgreifenden Verstaatlichungen zum blühenden Land erklärt. Deutschland, rief er unter großer Anteilnahme der Teilnehmer, kann durch sein politisches System sofort und umfassend umgestaltet werden.

Im großen Buchladen der Ökumene schüttelt der Vertreter von Kohlhammer den Kopf. Sie müssen bis 2015 mindestens warten. Dann liegen 50 Bände Bibelbücher vor. Aber ein Querschnitt durch die Bibel vom Lehrbuch Hiob aus ist nicht geplant. Der alte Herr am Antiquariat-Stand lächelt milde. Nein, davon habe er auch noch nie etwas gehört. Er habe die Bibel übrigens nie gelesen, nur auszugsweise. Das sei normale Geschichtsschreibung, über die Zeit entstanden, geändert, gewachsen. Mit Glaube habe das nichts zu tun. Wer glaubt, braucht auch keine Wahrheit. Er brauche sie.

Die Begleiterin bekräftigt, dass sie dieser Messe-Kirchentag nicht zufrieden mache, der Wissensstand nicht und sie selbst nicht. Da sagt Schaedler ernst: "Das müssen Sie ändern". Die Bücher "machen satt". Sie stehen ungerührt still inmitten des großen Palavers. Herr Marx schreibt an seinen frühen Namensvetter im "Kapital" (ich bin kein Marxist), er habe zu Zeiten der Globalisierung wohl doch mehr recht, als befürchtet. Nur die revolutionäre Beseitigung des Privateigentums habe bisher nie zu Vergesellschaftung geführt, sondern zu Verstaatlichung. Die aber wolle die Kirche auch nicht.

Barz (Ich bin Bonhoeffer) leitet ein: Wer bin ich? Frei, freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor dem schon gewonnen Sieg? (11).

Ich brauche keinen Sieg, keinen Herr und kein Mandat zum Gebieten. Ich trinke zum Tagesausklang erschöpft ein Erdinger Weißbier.

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13. Mai: Orientalische Matrazen

Die zweite Nacht im Hotel ohne Schnarcher. Leichter Niesel, aber mild. Der Weg zum ÖKT geht an einer Mauer entlang. Sie trägt Muster wie von Weinreben und schützt vor Schall. Es folgen idyllische Kleingärten, eine leere Autobahnzufahrt, bis der Klotz zu sehen ist. Sie nehmen an der Treppe vorn das Laufband, fahren bis zum Kreuz, wechseln nach Osten und erreichen A und B5. Die Halle steht voller PR-gestylter Präsentationsboxen. Die Hierarchie ist nur numerisch.

M 10 fällt durch orientalisch anmutende Matratzen auf. Christen, beschreibt die Begleiterin, werden hier in ihrem Glauben gestärkt und bestätigt. Wir wollen, referiert die Moderatorin der Gruppe, mit den Muslimen in Frieden und Freundschaft zusammen leben. Der Film zeigt fanatische arabische Wüstenkämpfer. Ich will die verfluchten Christen alle töten, aber das Teufelsbuch Bibel fasse ich nicht an, schreit der Held in die Nacht gegen den Auftrag an, den Kampf der Ideen zu führen und das Christenbuch als falsch zu entlarven.

Das erzwungene Studium bekehrt ihn dramatisch. Da tritt ein Mann an meine Seite, fragt ruhig nach meiner Zughörigkeit und fordert von der Moderatorin den sofortigen Abbruch der Vorführung. Wir wollten, erklärt die zur Diskussionseröffnung, Muslime als engagierte Gott- und Sinnsucher zeigen, die zu Gewalt nur aus tiefer Not greifen. Gott habe Jesus als Brücke zur Orientierung für den Suchenden angeboten. Es diskutiert keiner.

Im Film versichert Gott dem Konvertiten nur, dass die Bibel nicht verloren gehe. Sie liege in seinem Schrank. Ein ähnlich bekehrter arabischer Christ - ich habe mein Herz Christus in einem weißen Traum zugewandt – analysiert strategisch die Weltlage: Israel wird einen Präventivschlag gegen den Iran führen. Der kann 10.000 Schiiten als Selbstmordattentäter im Irak mobilisieren. Im Patt werden die Ajatollahs die Bombe bauen, die USA zur guten Nachbarschaft zwingen und muslimische Regionalmacht werden. Sie können den gesamten Ressourcentransfer an der Straße von Hormus mit einem einzigen versenkten Tanker blockieren - und ein Chaos der Clans verhindern?

Wir werden es erleben, schließe ich ab, kaufe zur Sinnfindung Barz´ Bonnhoeffer Biographie, passiere die Nord-West-Ausfahrt über einen Notausgang aus den Zylindern der Großgarage und komme zum 1:0 von Nürnberg gegen Augsburg ins Hotel. Die Ökumene in der Mühe der Ebene.

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12. Mai: S´ist Kultur

München kommt langsam in Bewegung. Bei der Einfahrt mit den Rädern schreit ein junger Mann aus der Seitenstraße "Hurensöhne" und verschindet schnell um die Ecke. Eine haushohe weiße Phantomfigur säumt die Straße. Zu Füßen der Bavaria dehnen sich weite Flächen. Die Zielankunft hat nichts von Friedensfahrt oder Tour de France. Wo kommt ihr her? Was, aus Berlin! Respekt.

So einfach ist unsere Radler- & Pilgertruppe auch nicht zu identifizieren. Lokal haben wir große Presse und Resonanz, antwortet der Mann neben mir in einem Interview. Regional ist die Berichterstattung schon schwächer. Deutschlandweit sind wir wohl noch kaum wahrnehmbar.

Auf der großen Bühne läuft eine Talkshow. Die Münchener füllen langsam die Flächen. Plötzlich schlägt der Ton um. Die Würdenträger treten auf. Da ist dein Marx, sagt die Begleiterin. Bischof Marx redet klar, entschieden und laut, doch er wird vom Bundespräsidenten übertroffen. Der Missbrauch ist schrecklich und ein Rückschlag, aber die guten Taten der Christen dürfen dabei nicht vergessen werden. Wir haben große Fehler gemacht, antworte ich der Begleiterin, aber die Partei hat großes geleistet und verdient weiterhin euer Vertrauen. So klang das zur Wende.

Ich stehe mitten in einem großen Chor, der jeden Anruf des großen Gottes inbrünstig mit einem Refrain beantwortet: "Jesus, du mein Licht, du meine Zuversicht, auf dich bau ich, dir vertrau ich." Welch ein Mythos, welch ein Kult, schießt es mir durch den Kopf. Wenn das alles so personalisiert wird auf Jesus, den Gottessohn, dann ist mir das zu hoch, hatte der Pensionär verlegen lächelnd und mit entschuldigendem Schulterzucken bekannt.

Das ist was für die Obrigkeit. Mir ist Jesus als Mensch viel näher. Der Körper verfällt eh, wenn man stirbt. Aber der Geist fließt dann irgendwie zurück zu seinem Ursprung. Das ist das Göttliche, das bleibt. An ein Leben im Jenseits glaube ich nicht. Wäre es nicht auch schlimm, wieder die alten Bekannten dort zu treffen mit alle den Streits?

Ich kann einiges aus dem Glaubensbekenntnis nicht mittragen. Wie soll man Christ sein, wenn man an die Grundwahrheiten nicht glaubt, ruft meine Begleiterin fast verzweifelt aus. Die unbefleckte Empfängnis nicht, den Dreieinigen Gott nicht, auch die Auferstehung nicht! Was bleibt denn da noch übrig? Das Ökumenische Manifest deckt doch nicht den Kanon von der einen Welt und dem einen Gott für alle Glaubensrichtungen!

Nach Köhler baut das da vorn auf der Bühne zunehmend ab. Die praktische Ökumene sind die gemeinsamen Auftritte der evangelischen und katholischen Geistlichen, die die Predigten teilen, fast synchron segnend das Kreuzzeichen schlagen und ehrlich Glück auf den Weg wünschen in den Gemeinden und die unterschiedslos herzliche Zuwendung der Gastgeber, sage ich einem Reporter.

Willst du dir Seehofer noch antun, fragt meine Begleiterin. Marx Religionskritik weicht von der der Junghegelianer ab: Er kritisiert sie als Staatsreligion der Staatsbürger. Ohne die freien Bürger einer Zivilgesellschaft werde sich das nicht ändern.

Hinter uns strömen die freien Bürger zum Stachus. Es geht um Kultur, sage ich. Ich bin ohne Sorge, dass sie sich vergessen könnten. In Bayern klingt die Blasmusik wie vor tausend Jahren und die Trachtengruppen haben keine Nachwuchssorgen. Wenn der Ökumene-Chor des Magdeburger Domgymnasiums gerade nicht singt, sind das teenager mit hohem Rollenverständnis.

11. Mai: Wir sind ja da

Wohin rollt sie? Nach München, München. Da steht ein Hofbräuhaus. Da schaut keiner heraus. War es nicht die Stadt der Bewegung? Wir werden, erklärt ein Organisator, ab 12 Uhr hineinradeln, direkt zum Zentrum der Veranstaltung, dorthin, wo Merkel und der Bundespräsident sitzen und die Pilgerschals zeigen. Ein günstigeres Angebot ist kaum zu bekommen, sagt der schwere Mann aus Norddeutschland: Fahren, Bewegung, Gruppe.

Vor fünf Jahren bin in ich diesen Weg an der Isar schon einmal gefahren, erzählt der Pensionär. Er ist schlank, durchtrainiert, Sportler, lächelt fein und etwas nachdenklich und erinnert sich. Seine Frau war nach langer Ehe zwischen Kreuzigung und Auferstehung gestorben. Es gelang ihm, allein zu leben, bis ihn eine junge Frau überraschte für eine Zeit. Die hat jetzt geendet vor der Fahrt.

Ich lebe von meinem Vermögen nach dem Verkauf der Firma. Jetzt lebe ich so, wie ich immer leben wolte, erzählt ein anderer.

Ich habe hier viel gelernt aus den Gesprächen untereinander. Nicht immer kann ich mich konzentrieren. Es fehlt Zeit zum verarbeiten, ja auch zur Meditation. Aber das dauert eh. Ich spüre Gott eher in mir.

Nein, dann bin ich wohl eher ein lauer Christ, sagt eine schwarzhaarige Frau im mittleren Alter. Ich will es nicht so streng. Es kann bei Hiob ja darauf hinaus laufen, die Anerkennung der Allmacht mit allen Mitteln. Ich habe eher einen etwas naiven Glauben. Ich will keine Strafen, Drohungen, Gewalt. Ja, ich will mir aus Allem aussuchen, was ich gebrauchen kann für mein Leben. Ist es nicht normal, dass ich mit meiner Tochter möglichst lang leben will und hardern würde, riefe Gott sie zu sich? Den Teufel brauche ich nicht. Wir menschen sind doch schon teuflisch genug.

Doch, bestätigt eine Lehrerin. Wenn wir uns Gott nicht unterordnen, stellen wir uns über ihn. Das machen wir doch massenhaft, täglich.

München beginnt unscheinbar mit einem Ortseingangsschild, heruntergfahrenem Ashpalt und einer Verbreitung der Straße ab Ludwig. Dann biegen wir zu St. Paul ab.

Er habe, so der empfangender Priester, zuerst nicht an die Umsetzung der Idee Ökumene geglaubt. Im Vorjahr dann schien es doch möglich. Jetzt sei sie da, bedeutend größer als erwartet. Er sei überwältigt und stolz auf diese Teilnahme, auf die Einbindung verschiedener Gruppen von weit her. Doch es sei dann der Stolz auf Gott, der den Menschen so befähigt habe.

Ich schätze uns auf knapp 200 Menschen, die den Straßenzug vor der Kirche nur lückenhaft füllen. Das Versorgungsteam ist beendet, bemerkt eine Nachbarin. Es gibt von irgendwoher Pizza. Der Chor ist die Ökumene, seit er singt. Er singt jetzt oft aus dem Liederheft. Das Liederheft ist der Chor. Der Texter … ist das Liederheft. Er ist die Ökumene.

Die Begleiterin flüstert, ich sei der Begleiter, die Interpretation der Bibelstelle treibt sie aus dem Haus, die Bloßlegung des eigentlich Christlichen in jede Religion. Ich folge ihr ins Café. Wir sind ja da.

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10. Mai: Unter uns

Diese gut gedachte Nacht ersoff im Regen. Morgens bin ich krank und der caritative Jesus ist unter uns. Er schiebt die zwei ältesten Frauen mit starker Hand die Berge hinauf und gegen den Wind. Seine weißen Locken wehen, sein weiches, gütiges Gesicht ist lächelnd gefasst, sein Leib wölbt sich bürgerlich. Er nimmt Teil an der Wirklichkeit wie ich: das doppelte vom doppelt Nötigen, statt einer Gulaschsuppe vier, einer Kiwi drei, einem Brötchen vier, einem kleinen Rucksack zwei große.

Dem radikalen Jesus bin ich noch nicht begegnet hier. In der Bibel wirft er sich der damalig jüdisch-bürgerlichen Gesellschaft entgegen. Bahro fordert in den 80ern erstmals die Unterwerfung unter die Natur: Deindustrialisierung in Stufen, Rückbau der Megastädte, drastische Vereinfachung des Lebens.

Die Ökumene will die Verallgemeinerung der kirchlichen Rituale und die gemeinsame Verkündigung des Evangeliums. Aber WAS? Der radikale Jesus jedenfalls würde in Zeiten entfalteter repressiver Toleranz und ausdifferenzierter Gesundheitsindustrie unbeachtet bleiben. Würde er so weit gehen in seiner Erweckungsmission wie die 9/11 Bomber?

Der Schüler vom Packdienst nickt vage mit dem Kopf. Milieu und Erziehung im Dritten Reich hätten es gezeigt. Die Pilger hätten wohl eher kein religiöses Motiv. Sie wollten raus aus dem Alltag, neu oder schon immer oder seien verpflichtet worden. Nur die Religionslehrer seien religiös. Der Lokalpolitiker auf dem Edeka-Frühstück in Ingolstadt patzt dann auch folgerichtig, wenn er den ökonomischen Gedanken begrüßt und Pfaffenhofens Erster sieht den Vorteil eines besseren Schulterschlusses ganz praktisch und spendiert ein Buffet mit belegten Brezeln im Ornament.

Vom Café Hipp aus sieht man die Schlussarbeiten am Neuen Marktplatz vor dem bereits renovierten Rathaus. Die Alten sehen auf die Neuen, die vor ihnen stehen wie seinsgleichen. So ist das wohl auch.

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9. Mai Ökumenische Gedanken

Jetzt nicht mehr. Empfänge, Festreden, fahren, die auf den Fotos sind nicht die Fahrer, sagt die erste Kranke. Wir haben alle Knieschmerzen, brauchen eine Pause, wie alle. Wir hätten zum 1. Mai starten müssen, aber die Berliner Polizei war überfordert. Am Ende der heutigen 50 Kilometer streikt mein linkes OP-Knie. Zu Anfang fuhren wir 20 km/h, nach den Bergen deutlich weniger, sagt die zweite Kranke.

Es wird nicht geredet in meiner Kirche. Dadurch sind die Missbrauchsvorwürfe sehr spät auf den Tisch gekommen. Sie haben die Gemeinde gespalten. ich lese ab und an und viel zu wenig das Wort, weil ich in einer Bibelgruppe bin. Aber dafür ist nur ganz selten Zeit vor aller anderen Gemeindearbeit.

Nach dem warmen Tag regnet es fein. Ich habe das komplizierte Zelt mit einem jungen Mann aufgebaut. Sicher schlafen! Die Schnarcher sollen nun heute in einen Extra-Raum. Wenn wir streng sind, schnarchen wir alle, sagt einer. Gestern zog einer aus der ersten Halle auf den Gang – und schnarchte selbst. Selbst ich vielleicht?

Die Begleiterin findet das Wort vom Teilen in der gestrigen Andacht unterbewertet: Brot teilen, wendet sie ein, sei zu simpel in Richtung kKnsum gedacht. Wir teilen mit allen und alles ist gut. Aber es geht doch nicht um einfache Umverteilung. Was sollen die Ostdeutschen von der Botschaft halten? Es geht doch um Jesus. Es geht, sagt Christoph, der Organisator, um das Wir.

Christoph ist Religionslehrer am Domgymnasium und baut seit Jahren an dem Rollen der Ökumene. Nicht nur um uns Pilger, nicht nur um den Chor, der die Ökumene erklingen lässt, nicht nur um die Schüler und die Gemeinden, die uns empfangen. Es geht um das alles zusammen. Das muss zusammen in Bewegung kommen.

Er ist unermüdlich. Alle Seiten dieses Vorhabens müssen gleichzeitig voran gebracht werden. Wo ist dein pilgerschal? Willst du einen zweiten? Wir wollen ihn immer dabei haben, um uns zu zeigen, zu winken. Der Schal ist um den Gepäckträger gebunden, um den Rucksack zu schützen, nach dem das Schutzblech abgerissen ist. ich ersetze ihn durch Klebeband und binde ihn als Schal um.

Der Pilgertross kommt an, als der Regen stärker wird. Ein perfektes Timing, sagt der erste. Es wird deutlich kühler. Ich bin nicht der einzige, der hier hustet. In der Evangelischen Gemeinde predigt ein tschechischer Katholik über die Feuerräder des Eskelied. Sein Kollege kommentiert, dass der Prophet damit zu den Vertriebenen nach Babylon gerollt sei - mit Donner und Blitz. Draußen donnert es und auf dem Hof steht das Konferenzvierrad, das den nach allen Seiten sehenden Männern aus dem Gleichnis ähnelt. Die ausgezeichnete Soljanka kochte das Altenheim.

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8. Mai: Hymne und Hintergrund

Labour verliert grandios, BP setzt eine Glocke auf das Öl und Kennzeichen D schlägt die Staaten auf dem Eis. Keine Nachricht von der Befreiung. Die Nacht im Waschraum, morgens kurz die Sonne über dem Siedlungshaus. Das Thermometer steht bei 6 Grad.

Bewegung Richtung Nürnberg.

Tatsächlich wieder Anstiege. Die Kondition sinkt, Fehlschaltungen. Abfahrten mit nachlassender Konzentration und schlechtem Material. Nürnberg in Sonne, Chilli im Heiligen Saal des Rathauses und der Chor des Gymnasiums singt. Das kannst Du auch mitsingen, sagt die Begleiterin. Gott ist da abwesend - straff gefasst. Das ist die praktische Hymne der rollenden Ökumene, die geplante kann nur der Chor:

Was Gott wollte, ist vielfältig, steht geschrieben und mag als Ergebnis seiner suchenden Schöpfung durchgehen. Was zuerst als eine ideale Welt gefasst ist, zerspringt unter Vertreibung, Sintflut, Verbannung und Zerstreuung der Schöpfung in die Welt. Sein Sohn Jesus soll dann mit Opfertod und Auferstehung einen, was bisher nicht nach seinem Willen gediehen war. Der Ökumenechor mit Band fasst das ganze dann tonal auch als Fan-Gesang: Sweet Jesus.

Die Pastorin der wunderschönen Lorenz-Kirche spricht von Lazarus, der den Armen nicht nur Brot durch Umverteilung gibt, sondern Werte umbewertet: sie als Schätze ansieht. Die Montagsdemo der Nürnberger Arbeitslosen wertet sie als Mahnung, es ihm nach zu tun. Was mag das heißen. Sie nimmt das Wort wörtlich. Aber wer nimmt es auf?

Die Charismatischen brauchen die Sätze, um die anderen durch sich zu begeistern. Die Caritativen nehmen die Bergpredigt als eigentlichen Anfang und das davor gehöre nicht in Kinderhand. Kreuzigung und Bergpredigt in einem ergäben einen Zugang, den keiner braucht.

So geben Wort und Stimme keine Sinn. Die Ökumene kann das noch überrollen. Ich bekomme wieder einen Waschraum und die beiden bekannten Schnarcher schlafen im 3. Segment der Halle.

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7. Mai: Ökumene rollt als Selbstbegegnung

Pilgern oder Wallen? Wallfahren heißt in Bewegung sein. Bewegung ist als Begegnung gedacht, die zuerst Austausch von Leistungen ist: Kost und Logis gegen Segen.

Auf der dritten Etappe über die Berge von Ost nach West begegne ich mir zuerst selbst ohne Ausweg. Der Körper wird mein Fixpunkt, ich die Variable. Da muss alles durch. Die Anstiege der dritten Dimension sind nicht so steil, aber linear.

Der erste Anstieg endet in Helmbrecht. Der Bürgermeister begrüßt uns als erster Bayernvertreter, aber vor allem als Franke. Schrippen und Pfannkuchen sind nicht zu überbieten. das Thermometer der Motorradstaffel zeigt sechs Grad. Ich bin die erste, sagt die Leiterin dem Schulordner und ich stehe hier, bis der letzte angekommen ist.

Der Spruch von den Letzten, die die Ersten sein werden, beschreibt die Wiederholung einer oben-unten-, Führer-Gefolgschaft-Karriere. Die Ökumene versucht den Kurzschluss: Klare Verantwortungen, harte, aber freundliche Aufforderung zur Regeleinhaltung, ständige Ansprechbarkeit. Miteinander verbunden sein und mit IHM, dem Heiligen Gott als seine Geschöpfe.

Bayreuth beginnt mit einer Tankstelle und sagt als Universitätsstandort zu. Statt als Wagnerland versteht sich die Stadt als Genuss-Region: die weltweit größte Dichte an familiengetragenem Handwerk aller Branchen, erklärt der Bürgermeister im warmen Hofbräuhaus neben Maisel. jetzt haben wir 14 Grad. Auf dem Weg zum Quartier bleibt die Polizei weg. Die Schulordner übernehmen die Regulierung nahtlos. Die Zivilgesellschaft kann wieder einmal weit mehr, als sie tut. Auch Morgen ist die Ebene bergig.

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6. Mai: Was ich glaube

Dann bin ich eben Buddhist. Gegen Gott jedenfalls bin ich nicht. Ich bin dabei zu erfahren, dass er für viele Führung bedeudet, Schutz und Mantel. Die Begleiterin sagt, sie könne nicht sagen, welchen Glauben ich habe. Ich glaube an den Menschen, aber genauer: an seine spirituellen Fähigkeiten, sich zu sehen, zu definieren, zu begegnen, mit sich umzugehen. Ohne die ist er, krass gesagt, ein Tier ohne Instinktschutz. Er hätte sich ausgerottet und er würde es vollständig tun.

Als Buddhist gehe ich bei der Ökumene durch. Wahrscheinlich nur als Gast, aber ich würde durchgehen. Die ältere Frau am Tisch in der Orangerie von Ernstal hat Einwände zur rollenden Ökonmene. Sie werde wahrscheinlich nur mit der Hälfte der Teilnehmer sprechen können.

Wir rasten durch Städte bis zur Erschöpfung: 10 Stunden, 100 Kilometer und 1000 Meter Höhenunterschied. Eskortiert von der Polizei mit ausgesuchter Streckenführung und Übernachtung in Massenquartieren.

Doch uns würde keiner sehen und wir selbst uns auch nicht. Pilgern, predigt der Pfarrer der Herrenhutgemeine, sei für die Pilger selbst. "Die Ökumene rollt" tritt hier als Schülerprojekt des Domgymnasiums auf und wir sind Gäste, solange sie da sind, wendet die Begleiterin trocken ein. Die jüngeren Pfarrer hätten Ober- und Unterdorf ganz unauffällig zusammengeführt, berichtet der Bürgermeister in der Predigt.

Ernsthal liegt 1000 Meter über Ziegenrück und wird in zwei großen Anstiegen und einigen kleineren unter Tour de France Bedingungen erreicht: Regen, Wind, Anstiege und rasante Abfahrten. Wenn ich "Gott" durch "Natur" ersetze und zur Äußeren die Innere nehme, dann passt das plötzlich viel mehr. Die drei Schüler der 11. Klasse sind auch nicht sicher, ob der Glaube eine verändernde Orientierung ist. Mit der Bibel brauche man niemandem kommen und die Botschaft modern zu formulieren, sei nicht geleistet. Das mindestens brauche es. Der Gaskamin im Brüderhaus treibt die Kälte aus dem Körper. Ich habe den ältesten Raum der Herrenhutgemeine Deutschlands als Schlafraum zugesprochen bekommen.

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5. Mai: Der zum Weinberg will

Es ist gewiss. Früh die Sonne über Elisabeth in meiner Exklave 101. Die Fürbitte vor zwei Tagen mit hohem Zeitverzug. Die Cafeteria ist zur Öffnung voll. Ich hätte schon um 6 losfahren können. Die ältere Frau guckt unternehmungslustig. Sind Sie jetzt dazu gekommen? Ich habe ihr Gesicht noch nicht gesehen. Kommen sie aus berlin? Ich auch, vom Ferbelliner Platz. Ja, da wo die Rente sitzt. Die haben nach sechs Wochen noch nicht geantwortet. Wer meckert, kommt nach unten, sagt der Sachbearbeiter.

Ich habe keinen Chef. Sie, wendet sie erinnernd ein, müssten auch umstrukturiert werden. Der Nachbar ist wirklich gestern dazu gekommen. er setzt nahtlos fort. Alle essen neben dem Reden. Der Kommunikationsstau der Nacht muss abgearbeitet werden. Marx ist tot. Seit 1885. 125. Religion ist kein Opium, Unsinn, erklärte die Ablehnerin des Papstes.

Die Kinder haben ja keine Chance mehr, Kirche kennen zu lernen. Marx in der Einleitung gegen Kant: es kommt auf die Möglichkeit an, vernüftig zu sein. Aber das reicht wohl nicht, um geistige Not zu wenden. Im Gegensatz zum Hunger kann sie verdrängt werden. Oder verschwindet einfach. Hinreichende Bestätigung für den überschaubaren Zeitraum gelingt anders. Aufbruch nach Jena.

Der Pfarrer der Ökumene fährt mit. Er macht Jugendarbeit, hat den Talar ausgezogen und lässt sich fragen, ob der Glaube Erdrutsche verhindern und Berge versetzen kann. Da nickt er nachdenklich, das sei immer ein großes Ideal gewesen, dem nahe zu kommen. Das sei im alltäglichen Leben aber schwierig. Sachsen-Anhalt habe viele junge Gläubige seit der Wende verloren, das Land tendiere zu einer sSniorengesellschaft und auch die Kirche müsse sich umorganisieren.

Ich setze nach: Die Pfarrer, die ich erlebt habe, setzen total auf Jesus. Der aber war laut Bibeltext kompromisslos radikal, forderte im Namen Gottes ein völlig neues Fühlen, Denken und Handeln und ging dabei wohlwissend in den Kreuztod.

Du meinst den Gegensatz zwischen diesem Jesus, der Bibel und meiner Kirche, fragt mich der Pfarrer zurück. Wir fahren ein Stück. Ich möchte nach einer Zeit in diesem Dienst als einfacher Mann in einem Weinberg in Brasilien arbeiten, sagt er dann. Wir müssen viel ändern. Da sind fragen von außen wichtig.

Ich sage, dass der Hiob-Text der Schlüsseltext ist, der alle anderen gGichnisse erschließt. Dass die Bergpredigt ohne den Kreuztod unsinnig erscheint, ja töricht und der ohne sie fatalistisch. Die jungen Menschen werden nach 9/11 fragen, auch wenn das zunächst paradox erscheint.

Dann kommen die Berge, die Anstiege, die Abahrten, die Ordner, die Schussfahrt, die in der Kurve zu rutschen beginnt. Dann ist Jena, das gute Abendbrot, die schöne Musik vor der Andacht, die den Herrn loben will. Dann gibt es den Schlusssatz von Hiob: Wer nicht an die Allmacht des Herrn glaubt, kann die Liebe zu seiner Schöpfung Mensch nicht erfahren. Der Routenplaner der Ökumene berichtet, dass die Pilgergruppe insgesamt als Staffel gedacht zweieinhalb Mal die Erde umrundet hat - bisher. Die Räder rollen.

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4. Mai: Die Nabe von Allem

Als ich im ÖDG, dem Ökumenischen Domgymnasium, die Tür zum Seitenflügel öffne, liegt ein roter Schlafsack auf dem Boden. Ich gehe eine Treppe höher. Der Bewegungsmelder springt an bei jeder Bewegung: von dem unten und von mir. Aber das Schnarchen, selbst im Flur noch stark, ist nicht mehr zu hören.

100 Kilometer bis Halle. Es nieselt immer noch kalt. Am Domplatz stehen 1.000 Menschen: die externen Pilger und die Schulklassen. Sie tragen die Ökumene durch Sachsen-Anhalt. die Jüngsten bleiben bis Gnadau. Im 300 Seelen-Ort spielt eine Blaskapelle beeindruckend sauber und berührend Rockklassiker. Der Pfarrer hebt ein Vorderrad in die Luft: die Welt, klemmt bunte Klammern an die Speichen, die Gemeinden, und definiert die Nabe - Jesus.

Dann dreht er das Rad. Die Klammern, die weiter von der Nabe entfernt sitzen, rutschen ab. Die Nahen, die zudem durch sich überschneidende Speichen gesichert sind, sind die verbundenen Gemeinden. Sie halten die Rotation aus. Die Anbetung des dreieinigen Gottes wird überwiegend von den Alten mitgesprochen.

Zum Mittag taucht Bernburg auf. Die Martinskirche sollte aufgegeben werden, so der Pfarrer mit bedächtigen, scharf artikulierten Worten. So entstand 2004 die Idee, Kindergarten, Spielstätten, Kultur- und Sporträume in einem Ring von Holzhäusern wie ein Kinderkomplex zu entwickeln. Dreiviertel der Kosten trüge die EU, wenn das Projekt zum Schulanfang 2007 bezugsfertig sein würde. Jetzt sei alles einfacher, lächelt der Pfarrer etwas matt. 40 Angestellte. Das sei ein mittelständisches Unternehmen. Sechs Tage Auslastung + geistliches Wochenende, ein Bezugspunkt in der Stadt.

Vor Halle zwei lange Anstiege, vor mir zwei rundliche Frauen, die mit erstaunlicher Kraft und Ausdauer hinauffahren. Im oberen Fünftel geht dann eine noch Ältere kraftvoll an mir vorbei. Gestandene Pilger. Das Gymnasium heißt St. Elisabeth, wurde 1997 gebaut, die Abendsonne blinkt in den großen Fenstern der Cafeteria.

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3. Mai: Der Magdeburger Vollzug der Ökumene

Ein Regenfaden vom Dach. Um 6 Uhr "p.j.harvey, we´ll flow". Die Amerikanerin im rechten Fensterbett knurrt zufrieden. Sie ist öfter in Deutschland und in den Staaten auch bewegungsbewegt. Peter, der Pole, ist schon auf dem Weg zum Waschraum. Er weiß jetzt, dass er schnarcht.

Die Sättel waren nicht abgedeckt. Rechts die Spargelfelder, die Furchen schwarz wie mit Plaste eingeschweißt. Warum fahren Sie mit? Das fragende Mädchen wird 14 sein, Domgymnasium. Weil mich bewegt, was sich bewegt. Weil ich nicht weiß, was hier wie zusammenkommt und 500 Kilometer fährt. Weil ich 500 Kilometer am Stück noch nicht gefahren bin.

JL heißt Jericholand, ein Kernbestand ist Genthin. Hier wird Spee produziert, die Heilige Maria Königin Rosenkranz verehrt und die rollende Ökumene versorgt. Bis voriges Jahr saß Henkel hier. Das Domgymnasium, erklärt der Projektlehrer auf dem Elberadweg hinter Oberwarthe, wurde zur Wende von Elterniniativen gegründet. Die Anbindung an die Kirche erfolgte erst vor zwei Jahren. Der Zugang zur Kirchenlobby bringt mehr Ressourcen.

Eine Ordnerin, Absolventin der Schule, sagt, sie sei eigentlich Atheistin. Aber die Schule sei gut gewesen. Konfessionelle Bekenntnisse seien nicht nötig, Zensuren und Aufnahmegspräch mit den Eltern entschieden über die Zulassung. Sie achten darauf, dass alle vorhandenen Konfessionen in Etwa gleichgewichtig vertreten sind. Ein nur christlich orientiertes Gymnasium würde weder zu dem Ort noch zur Zeit passen.

In Genthin steigen einige wegen des Regens auf die Bahn um. Überwiegend Jungen, erfahre ich, die Mädchen machen weiter. Ich bin doch kein Weichei, erklärt eine schmale Schlanke. Ich will durchhalten, eine andere. Die dritte, die zaghaft dabei steht, sehe ich dann auch weiter fahren.

Noch kurz vor Herrenburg überholen mich zwei ganz Junge spielend. Ein schüler der 10. Klasse, der bis münchen fahren wird, kommt aus einem katholisch-evangelischen Elternhaus. Gelebte Ökumene.

In Sachsen-Anhalt fällt die Motorradeskorte weg. In Magdeburg setzt die Polizei Radler ein. Wieweit Glaube, eine persönliche Sache, in die Schule eingebracht werde, entscheiden die Freiräume und die Gläubigen. Die Freiräume im Domgymnasium seien erfreulich groß. Es gehe schon darum, freie Menschen zu erziehen, die ihre Persönlichkeit kennen. Dass Glaube nun so sehr sinnstiftend in der Schule sei, bejaht der Projektlehrer nicht. Aber die Richtung ist klar: Wir fahren, sagt die ältere Frau, nicht für Gott, sondern für eine einige Kirche, also für uns.

Ich käme ohne den Papst gut aus und ohne manchen der schwachen Pfarrer. Aber die Gemeinschaft der Gemeinde ist gut. Dafür nehme ich Manches in Kauf. Im St. Sebastian sammeln sich alle am alten Altar, sich zu einigen. Im Dom die gegenseitige Taufe von unterschiedlichen Paaren. Sie treten vor, sehen sich an, nehmen das Wasser auf und berühren sich. Im Kerzenlicht sieht es aus, als lächelten sie kurz vor einer Umarmung. Die Elemente der Vereinigung sind gemeinsames Gebet, Abendmahl / Eucharistie und Taufe.

Ich kann mich bei diesem überzeugend klaren Pfarrer bedanken, der dann so bescheiden und einfach ist: wie im Märchen, so im Leben.

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2. Mai: Brandenburger Begegnung

Mücken im Domdorf bei Brandenburg. Die Domgemeinde hat Kuchen gebacken und 150 haben sich darauf gestürzt. Pilger kommen und nehmen. Früher gaben sie dafür Segen. Den kriegen wir dann im Dom: Einmarsch der weißen Roben, dahinter der Chor, Aufstellung Psalm 785. Diese Psalme sind Stunden- und Tagesgebete für Schutz und Seelenfrieden.

Es gibt keine Begegnung auf der ersten Station, weil das Prozedere sie nicht vorsieht. die Begegnung findet unter dem Tag mit der Polizei statt. Sie eskortiert, sperrt die Straße, führt aus Berlin hinaus und übergibt an der Glienicker Brücke an die Brandenburger Kollegen. Beifall und Dank, ein paar Scherze, wünsche auf den Weg. Die Brandenburger sind größer und massiver. Dieses Begleiten berührt mich, obwohl es nur ein Job ist und kein so interessanter dazu.

Was tun. Wer rollt hier mit der Ökumene? Es sind normale Christen, Landeskirche. Sie empfinden die konfessionelle Trennung als unsinnig. Ist Begegnung darüber hinaus ein Thema? Es sieht nicht so aus.

Beim Atemkurs vor fünf Jahren legten sich die 20 Teilnehmer in einem Kreis zusammen, schlossen die Augen und fassten sich langsam an den Händen. Das war noch im Nachhinein eine gute Form. Die hand meiner rechten Nachbarin passte so gut in meine, dass wir nicht losließen, als die anderen aufstanden. Das war eine andere Begegnung.

Im Domdorf gibt für die Älteren 6er Zimmer. Die ganz Jungen schlafen in der Turnhalle. Vielleicht ziehe ich um, wenn es hier laut wird. Da verläuft es sich anders.

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