Kolumne Einen Versuch legen: Im Reich der Fantasie

Über das nervenaufreibende Spiel mit der Statistik und Basketballprofi Brandon Roy, der leider verkauft werden musste.

Brandon Roy spielt eine fantastische Saison. Der Guard der Portland Trail Blazers erzielt im Schnitt 20 Punkte, 5 Rebounds und 6 Assists pro Spiel. Obwohl erst im zweiten Jahr in der NBA, ist Roy Führungsspieler, All-Star und die Hoffnung von ganz Oregon. John Hollinger, Basketballstatistiker beim amerikanischen Sportsender ESPN, führt Roy als sechstbesten Shooting Guard in der Liga - und damit vor Legenden wie Tracy McGrady und Vince Carter. Es ist genau der richtige Zeitpunkt, Brandon Roy zu verkaufen.

Für mein Fantasyteam Centipede hat Roy vier Monate lang einwandfreie Statistiken geliefert. Der Erfolg beim Fantasy-Basketball hat nichts damit zu tun, ob die echten Teams verlieren oder gewinnen. Stattdessen dreht sich im Fantasy-Sport alles um die Statistiken der Spieler. Im Standardformat zählen neun Kategorien: Punkte und Rebounds, Assists, Dreipunkttreffer, Steals, Blocks und Turnover sowie die Wurfquote vom Feld und beim Freiwurf. Nur wer in keiner Kategorie Schwächen hat, wird zum Fantasystar.

Fantasy-Sport ist die große Schattenwelt des amerikanischen Profisports. Jede Saison tragen tausende Statistikfans aus aller Welt einen monatelangen Nervenkrieg aus. Erfolg in der Fantasy-Welt verlangt harte Arbeit, Strategie, Antizipation und Glück. Es gibt 30 NBA-Teams, jedes Team hat bis zu 15 Spieler im Kader und absolviert 82 Spiele pro Saison, insgesamt pro Kategorie 36.900 Zahlen, die ich im Auge behalten muss. Fast ein halbes Jahr lang, von Ende Oktober bis Mitte April, kontrolliere ich jeden Morgen die Statistiken der letzten Nacht, überprüfe meine Mannschaften und lese ein paar Dutzend Fantasy-Blogs. Ich kenne die Körper von ein paar hundert Topathleten besser als meinen eigenen. ONeal hat eine schwache Hüfte, Ford einen wackligen Hals und Atkins eine weiche Leiste. Verstauchte Knöchel, Drogenskandale, Vertragsklauseln, missgelaunte Trainer, Tauschgeschäfte der Clubs, Todesfall in der Familie, irgendeiner Familie - jede Kleinigkeit kann einem die Wochenbilanz versauen.

Mittlerweile leisten sich alle großen Sportwebsites eigene Fantasy-Abteilungen: ESPN, NBA.com, CBS, Yahoo, alle. Die Gurus der Szene, Brandon Funston von Yahoo zum Beispiel oder Rick Kamla von NBA-TV, werden dafür bezahlt, jeden Tag in ihren Analysen die kritischen Fragen zu beleuchten. Wird Erick Dampier, Center der Dallas Mavericks, sich deutlich verbessern, weil ihn der gerade per Megatrade erworbene Jason Kidd besser in Szene zu setzen versteht? (Ja.) Wird sich in Memphis endlich einer der drei jungen Spielmacher durchsetzen? (Nein.) Trifft Larry Hughes besser, jetzt, wo er nicht mehr im Schatten von LeBron James, sondern in Chicago spielt? (Vorsichtiges Ja.)

Ende Februar kam dann der Tag, an dem ich Brandon Roy verkaufte. Und zwar für Kevin Martin, den oft unterschätzten, schmalen Scorer aus Sacramento. Zu diesem Zeitpunkt lagen beide etwa gleich im Ranking, der eine lieferte mehr Assists, der andere mehr Dreier. Aber Sacramento spielt in den drei letzten, entscheidenden Wochen der Saison einmal mehr als Portland, ein winziger Wettbewerbsvorteil, der die Meisterschaft entscheiden kann. Vor zwei Jahren schied mein Team Cockroach nach hartem Kampf im Halbfinale aus, nur wegen zwei fehlender Rebounds. Das wird mir nicht noch mal passieren.

Manchmal würde ich gern freinehmen vom Fantasy-Stress. Aber jedes Mal, wenn ich ein, zwei Tage nicht am Ball bin, verliere ich deutlich an Boden. Nach einer Woche Passivität sehen meine Mannschaften so desolat aus wie die New York Knicks. Und die anderen schlafen nicht. Kaum erfahre ich einen Tag zu spät von der Verletzung von Ron Artest, schon wird John Salmons, sein Ersatzmann, zu einem Top-Twenty-Spieler - leider bei einem Konkurrenten. Alle sitzen gebannt vor den Geräten und warten auf Neuigkeiten.

Am 24. Februar, genau einen Tag nachdem ich ihn verkauft habe, verlässt Brandon Roy im dritten Viertel des Spiels gegen die Celtics mit schmerzverzerrtem Gesicht das Parkett und kehrt nicht zurück. Eine schwere Knöchelverstauchung lautet die Diagnose, Kernspintomografie zwar negativ, aber Roy setzt in der folgenden Woche zwei Spiele aus. Während mein Konkurrent dank Brandons Knöchel in der Wochenwertung einbüßt, gewinne ich mit Kevin sofort alle neun Kategorien. Noch drei Wochen bis zur Entscheidung. Centipede ist wieder im Rennen.

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