Kommentar Alltagsflucht in Krisenzeiten: Nicht tanzen ist auch keine Lösung

Wieder und wieder Attentate in der Welt. Dabei gilt: Vergesst das Schöne nicht. Alltagsfluchten in Zeiten der Krise sind dringend notwendig.

Da tanzt sie, die Belegschaft der taz Foto: taz

Da war es neulich wieder: dieses döselige Gefühl, völlig verschwitzt und irgendwann sogar barfuß zu tanzen bis in den Morgen. Schlimme gute Hits waren dabei. I will survive. Hier im SO36 in Berlin Kreuzberg.

Als im letzten November die Anschläge im Bataclan in Paris waren, stellte ich mir vor, dass das auch in diesem Club hätte sein können. Jetzt tanze ich. Während woanders womöglich wieder ein Anschlag verübt wird.

Nizza, Istanbul, Baton Rouge, Würzburg, München, Kabul, Ansbach: Andere leiden, wir tanzen. Was für eine Farce. Was für ein Luxus. Musik ist meistens eine Flucht aus der Gegenwart heraus.

Wir erinnern uns mit einem Song an einen schönen Moment. Oder wir versetzen uns mit Absicht in frühere, traurige Momente zurück. Für eine ganze Generation ist „Sour Times“ von Portishead wohl so ein Song. Lieder wie „Ancora Tu“ von Róisín Murphy führen dagegen in die Sonne und den letzten Italienurlaub.

Es gibt auch verstörende Musik. Deren Beat und Melodie einen mitschwingen lässt und deren Texte gleichzeitig Beklemmungen auslösen. „Drone Bomb Me“ von Anohni ist so ein Fall. Allerdings weicht der Text schnell der Musik. Denn Musik funktioniert intuitiv, wir reagieren emotional darauf. Melodien wirken stärker als Texte, stärker auch als Bilder.

Die Gegenwart erträglicher machen

Laute Elektrobeats sind zum Vergessen gut. Hinreichend bekannt sind die Geschichten über israelische Soldat_innen, die nach dem Wehrdienst erst einmal zu Trance in Goa die Gedanken ausschalten.

Die Welt dreht sich weiter. Und sie dreht weiter durch

Andere Musik nimmt uns mit auf eine Reise. Lana Del Rey lebt davon, die Sehnsucht nach Hippie-Zeiten zu wecken. Kiffen, tanzen, im Kreis drehen und mit Scott McKenzie singen: „Be sure to wear some flowers in your hair.“ Flower-Power-Zeit. Kriegszeit. Während US-Soldaten in Vietnam kämpften, dröhnten sich die Zurückgebliebenen den Kopf zu. Und sangen vom Frieden.

Die Blumenmusik von damals war auch eine Forderung: Vergesst das Schöne nicht. Die Welt sollte ein Ort sein, in dem das gedankenlose Tanzen der Normalzustand ist, nicht die Angst vor Gewalt. Das ist das Ziel. Auf dem Weg dahin darf es nicht verloren gehen.

Die Welt dreht sich weiter. Und sie dreht weiter durch. Ein Tanz mehr oder weniger wird daran nichts ändern. Aber er macht die Gegenwart erträglicher.

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Stellvertretende Chefredakteurin der taz seit April 2016. Vorher Chefredakteurin des Missy Magazine. Aufgewachsen in Dresden. Schreibt über Kultur, Feminismus und Ostdeutschland. In der Chefredaktion verantwortlich für die digitalen Projekte der taz. Jahrgang 1985.

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