Kommentar Behindertenrechtskonvention: Revolutionspotenzial verschenkt

Inklusion braucht einen tiefgreifenden Systemwandel. Auch 10 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Konvention sind wir davon weit entfernt.

Kinder in einem Klassenzimmer einer Inklusionsschule

Eine von wenigen Inklusionsschulen in Deutschland Foto: dpa

Ein Jahrzehnt nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Bilanz alarmierend: Nicht weniger, sondern mehr Menschen leben in Behindertenwohnheimen und arbeiten in Behindertenwerkstätten. Die Quote der Kinder, die nicht inklusiv, sondern in Förderschulen unterrichtet werden, hat sich in einigen Bundesländern sogar erhöht. Mit schlecht gemachter Integration unter dem Label der Inklusion wurde und wird gerade im Bildungsbereich der Begriff der Inklusion massiv entwertet. So steht es in dem Bericht, den das Deutsche Institut für Menschenrechte am Mittwoch veröffentlichte.

Sicher gibt es auch Gutes zu berichten: Der Wandel vom Fürsorgeprinzip hin zum Grundsatz der Selbstbestimmung hat vor allem die bereits bestehenden Systeme durchwirkt. Doch die wirkliche Tragweite, ja das Revolutionspotenzial der Inklusionsbewegung – es wurde bislang verschenkt.

Ernstgemeinte Inklusion bedeutet den tiefgreifenden Wandel eines Systems, das den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Mehrheitsgesellschaft entspricht, hin zu einem universell gestalteten System, das allen Menschen gleichberechtigt Zugang gewährt. En passant würden in einer inklusiven Gesellschaft auch Herausforderungen von Bildungsungerechtigkeit, sozialer Ungleichheit und Migration gelöst. In Sachen gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit ist Inklusion der wohl fortschrittlichste Ansatz unserer Zeit.

Bislang erschließen sich die Vorzüge eines inklusiven Systems vor allem den Eingeweihten. Zum einen denen, die das Glück hatten, zumindest in Teilbereichen echte Inklusion zu erleben. Zum anderen natürlich allen, die selbst von einer Beeinträchtigung betroffen sind, die sie aus unserem nach wie vor separatistischen System herauskatapultiert.

Die Wahrscheinlichkeit dafür ist übrigens hoch: Ein Viertel aller Deutschen gilt als behindert im Sinne der UN-BRK. Die meisten Beeinträchtigungen sind mitnichten angeboren, sondern werden mit zunehmenden Alter erworben. „Nichtbehindert“ ist insofern immer auch ein „noch nicht behindert“.

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Redakteurin in der Inlandsredaktion, schreibt über Gesundheitsthemen und soziale (Un-) Gerechtigkeit.

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