Kommentar DGB-Protest: Die Großdemo war ein Erfolg

Immer noch vertrauen die Arbeitnehmer den Institutionen, die verlässlich für Solidarität stehen. Die europaweiten Demos waren daher ein echter Erfolg für die Gewerkschaften.

Die Krise politisiert. Ein anderer Schluss ist nach den Großdemonstrationen der Gewerkschaften am Wochenende nicht möglich. Allein in Berlin gingen 100.000 Menschen auf die Straße, um ihre Wut über die Verursacher der Krise deutlich zu machen.

Die Stärke der Demonstrationen ist nicht nur ein Signal dafür, dass immer mehr Menschen Krisenfolgen wie Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit selbst oder in ihrem Umfeld spüren, sondern auch dafür, dass sie daraus politische Forderungen ableiten. Immer noch vertrauen die Arbeitnehmer IG Metall, Ver.di und Co. als Institutionen, die verlässlich für einen solidarischen Gesellschaftsentwurf stehen. Die europaweiten Demonstrationen waren also ein echter Erfolg für die Gewerkschaften.

Der Vertrauensbeweis der Basis beinhaltet aber gleichzeitig einen Arbeitsauftrag. Denn bis vor Kurzem haben sich die Arbeitnehmervertretungen nicht gerade als Meinungsführer in der Konjunkturkrise hervorgetan. Im Gegenteil, es entstand der Eindruck, als puzzelten die Vorstände noch Anfang des Jahres an Konzepten herum, obwohl die Krise im Herbst 2008 längst abzusehen war. Auch ihre aktuellen Rezepte klingen altbacken. Beschließt die Regierung ein zweites Konjunkturpaket, fordert der DGB eben ein drittes. Und die IG Metall dringt ebenso erwartbar darauf, alte Industriezweige wie die Autobranche mit Steuergeld zu erhalten.

All dies ist nicht in Gänze falsch, und es ist auch das, was die Betriebsräte und die Mitglieder erwarten. Doch müssen die Gewerkschaften den Vertrauensvorschuss von der Straße besser nutzen. Zum einen, indem sie sich noch stärker als politische Akteure begreifen und den Druck im Bundestagswahlkampf auf die Politik erhöhen, ihre Forderungen, die offenbar viele Menschen richtig finden, auch umzusetzen. Zum anderen aber, indem sie selbst mutiger denken.

Vereinzelt gibt es in den Gewerkschaften Stimmen, die für einen Umbau der Wirtschaft plädieren, der soziales Denken mit ökologischen und nachhaltigen Ansätzen verbindet. Doch leider bestimmen sie nicht die große Linie der Vorstände; die setzen nach wie vor auf klassische Industrie- und Wirtschaftsförderung. Das heißt, die Gewerkschaften klammern sich bisher zu sehr an das, was sie Politik und Wirtschaft vorwerfen: an die Idee, die Krise ließe sich mit einem schlichten "Weiter so!" bewältigen.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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