Kommentar Neonazi-Demo in Berlin: NS-Verherrlicher wurden unterschätzt

700 Neonazis feiern den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß und ziehen unter massivem Polizeischutz ungehindert durch Berlin. Das muss sich ändern.

Ein Demonstrant zeigt zwei ausgestreckte Mittefinger in Richtung der Neonazi-Demo

Zumindest kamen sie sich nahe: Gegendemonstranten und Neonazis am Samstag Foto: dpa

Die Bilder von diesem Samstag sind schrecklich: Da laufen 700 Neonazis uniform in Schwarz und Weiß gekleidet hinter einem Banner mit der Aufschrift „Ich bereue nichts – Nationale Sozialisten Berlin“ durch Friedrichshain und Lichtenberg, dicht eskortiert von mehreren hundert Polizeifahrzeugen und mehreren tausend Polizisten. Mehr Schutz, zumindest auf dem ersten Kilometer hinter dem Startpunkt (ausgerechnet dem Platz der Vereinten Nationen), kann es eigentlich nicht geben.

Und unverhohlener kann auch kaum NS-Verbrechen und -Verbrechern gehuldigt werden: Das Zitat bezieht sich natürlich nicht auf Edith Piaf, sondern gilt als ideologisches Vermächtnis von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, der sich fast auf den Tag genau 31 Jahre zuvor im Kriegsverbrechergefängnis in Spandau das Leben genommen hat.

Daher wirft dieser Demosamstag viele Fragen auf. Muss die Polizei in einer rot-rot-grün regierten Stadt zwei parallel stattfindende Neonazi-Aufmärsche in Spandau und Ostberlin, die einem NS-Verbrecher huldigen, genehmigen und später mit einem außerordentlichen Aufgebot von 2.300 Beamten durchdrücken? Mit welcher Taktik können linke Bündnisse solche Nazi-Auftritte noch verhindern? Wird die Stadtgesellschaft dabei von ihrer Stadtregierung unterstützt? Gibt es genug Menschen in Berlin, die sich Rechten entgegenstellen? Und: Ist Friedrichshain noch ein linker Kiez?

Sitzblockaden einfach umgangen

Die Antworten werden genauso wenig eindeutig ausfallen wie die Bilanz dieses Tages, die aus linker Sicht auch positiv gesehen werden kann. Etwa, wenn man das Augenmerk auf Spandau legt, wo breite Mobilisierung und viele Proteste es wie 2017 geschafft haben, einen Neonazi-Aufmarsch zu verhindern. Auch ermöglichte die Polizeipräsenz viele spontane Gegenproteste in unmittelbarer Nähe der neuen Nationalsozialisten. Die Polizei konnte es sich sogar leisten, einige Sitzblockaden nicht zu räumen – sie wurden schlicht umgangen.

Letzteres belegt aber leider auch: Die Bündnisse gegen rechts, die Antifa und wohl auch der Innensenator haben die NS-Verherrlicher an diesem Samstag unterschätzt – eine bittere Erkenntnis angesichts einer Entwicklung in Gesellschaft und Politik, die mehr und mehr von rechten Allesversprechern und Hasspredigern getrieben wird.

Mann mit Hitler-Bart während der Neonazi-Demo

Selbst Hitler-Fans zeigten sich ganz offen Foto: dpa

Und zu viele BerlinerInnen selbst in politisierten Kiezen wie Friedrichshain sehen Neurechte und Neonazis offenbar nicht als Problem. Zwar eilten einige schnell herbei, als die Nachricht von der Verschiebung des Aufmarschs die Runde machte. Das reichte aber längst nicht aus, um eine Verhältnismäßigkeit zu Ungunsten der Rechten herzustellen, damit deren Demo vorzeitig beendet werden konnte.

Für die nächsten Proteste muss über eine noch breitere Mobilisierung und Ansprache der Bevölkerung nachgedacht werden. Das ist nicht nur Aufgabe der Anti-rechts-Bündnisse, sondern auch der Politik. Rot-Rot-Grün sollte das Thema Antifa stärker und dauerhaft den eigenen Wählern vermitteln. In Spandau war sogar die CDU im linken Boot; daraus muss aber ein dauerhaftes Engagement werden jenseits weniger symbolhafter Auftritte.

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Jahrgang 1974, war bis Juni 2023 Leiter der Berlin-Redaktion der taz. Zuvor war er viele Jahre Chef vom Dienst in dieser Redaktion. Er lebt seit 1998 in Berlin und hat Politikwissenschaft an der Freien Universität studiert.

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