Konzert von The National in Berlin: Wie Magnetspäne in der Petrischale

Der Sänger der Indierock-Größe The National, Matt Berninger, lässt sich nicht aus der Ferne anbeten, sondern Menschen nah herankommen.

Matt Berninger von The National bei einem Konzert

Matt Berninger von The National bei einem Konzert im September in London Foto: James Berry/Avalon/imago

Vor Menschenmengen habe ich Angst. Gitarrengeschrammel an alkoholinduziertem Männergejaule kann ich nichts abgewinnen. Was also mache ich in der ausverkauften Max-Schmeling-Halle in Berlin unter 12.000 Zu­schaue­r:in­nen bei einem Konzert der US-Band The National? Deren Musik als Inbegriff des „Sad Dad Rocks“ gilt? Und warum verspüre ich dabei so viel Freude, als wäre ich Fan der ersten Stunde?

Dabei nicke ich unsicher, wenn das Publikum beim ersten Akkord eines Songs zu toben beginnt und F. neben mir sagt: „Scheint bekannt zu sein.“ Müsste ich das nicht wissen? Schließlich bin ich hier, weil ich mich unsterblich in das Ende April erschienene neue Album der mir bis dahin unbekannten Band verliebt, es monatelang in Dauerschleife gehört hatte.

Das hätte der Beginn einer wunderbaren neuen Fanschaft sein können. Ich hätte mich durch die acht älteren Studioalben der Band gearbeitet, um beim Konzert jede Zeile mitzusingen. Aber nein, nur „First Two Pages of Frankenstein“ und das im September hinterhergeschobene Album „Laugh Track“ haben mich so gepackt. Alle anderen lassen mich kalt.

Das liegt daran, dass die Band in den letzten Jahren ihren gewohnten stomping ground verlassen hat. Die neuen Stücke sind ruhiger und melodiöser, die Gitarren schreien selten Schmerz heraus, das Schlagzeug treibt die Songs nicht vor sich her, sondern begleitet sie. Und es klingt mal nicht so, als müsse der Sänger Matt Berninger in den Arm genommen werden.

Und es klingt mal nicht so, als müsse Matt Berninger in den Arm genommen werden

Hier spendet er Trost mit seiner samtigen, tiefen Stimme, die in Sprechgesang-Passagen an Leonard Cohen erinnert („All of your lonesomeness kept in your wallet“). Die Songs fühlten sich „schwerer, wahrhaftiger und trostreicher“ an, heißt es in einem langen Artikel im US-Magazin New Yorker.

Überwundene Depression

In ihm lässt sich nachlesen, was man über die Band wissen muss. Dass sie neben Berninger aus zwei Brüderpaaren besteht, welche Rolle sie in Barack Obamas Wahlkampf gespielt hat und dass Berningers Depression während der Pandemie ihn fast ein Jahr so paralysierte, dass er weder singen noch neue Texte zur Musik der eineiigen Zwillinge Aaron und Bryce Dessner schreiben konnte.

Dass es ihm irgendwann doch gelang – was laut Berninger den Heilungsprozess weiter beschleunigte –, ist den Songs anzuhören. Sie strahlen eine erwachsene Gelassenheit aus und erinnern daran, dass Krisen – sind sie erst einmal überstanden – nicht das Ende markieren, sondern den Übergang zu etwas Neuem.

Live funktionieren ausgerechnet diese Songs, die mich hergeführt haben, weniger gut als die alten. Sie sind zu persönlich für die riesige Halle und laden mit Ausnahme des Trennungssongs „Eucalyptus“ weniger zum explosiven Tanz ein als zum sanften Wiegen des Oberkörpers.

Aber ich vermisse nichts an diesem zweieinhalbstündigen Konzertabend. Denn der überwiegende Rest der Setlist hat es in sich, ich werfe Arme und Beine von mir. In diesem Setting wird der Indie-Rock für traurige Mittelschichtsväter für mich lebendig. Nur gelegentlich halte ich mir die Ohren zu, wenn die Gitarren miteinander zu Lärm vermatschen. Es ist ein großes Sichspüren, den Sänger eingeschlossen. Er gibt alles, wie einer, der im dunklen Zimmer selbstvergessen mit großer Geste seinen Gefühlen freien Lauf lässt. Nur steht er auf der Bühne und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich.

The National ist eine 1999 in New York City gegründete US-Band. Einem größeren Publikum wurde sie 2010 mit dem Album „High Violet“ bekannt. Das Konzert in Berlin am vergangenen Samstag war eins von zweien auf der aktuellen Tournee.

Er gibt sich dem Publikum hin

Dabei lässt sich Berninger nicht aus der Ferne anbeten, sondern die Menschen ganz nah herankommen. Sie dürfen ihn berühren, umarmen gar. Immer wieder begibt er sich in die Menge, einen Techniker am Mikrofonkabel hinter sich herziehend. Einmal durchquert er die Halle in ihrer Längsachse bis nach hinten. Die Leute streben ihm zu „wie Magnetspäne in der Petrischale“, sagt F. Berninger gibt sich dem Publikum hin und sie versichern einander: Wir sind da.

Beim allerletzten Song wünsche ich mir, ich hätte mich für das restliche Œuvre der Band mehr begeistern können, denn den singt das Publikum alleine, text- und melodiesicher, begleitet von akustischer Gitarre und Bläsern. So schön: „Vanderlyle, crybaby cry“.

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Seit 2003 bei der taz als Redakteurin. Themenschwerpunkte: Soziales, Gender, Gesundheit. M.A. Kulturwissenschaft (Univ. Bremen), MSc Women's Studies (Univ. of Bristol); Alumna Heinrich-Böll-Stiftung; Ausbildung an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin; Lehrbeauftragte an der Univ. Bremen; in Weiterbildung zur systemischen Beraterin.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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