Kopieren im Netz: Lob der Piraterie

Seiten, die per Torrent Inhalte zum Herunterladen anbieten, geraten immer weiter unter Druck. Dabei ist Medienpiraterie gut.

Piratenflagge vor blau-weißem Himmel

Symbol der Freiheit – zumindest für einige Foto: _gennadi/photocase.de

Zwei Abmahnungen in einer Woche gehörten zu den Willkommensgrüßen, die mich nach neun Jahren in Asien in Deutschland empfingen. Weil man zwei Filme von meinem Laptop herunterladen konnte, verlangten zwei verschiedene Anwaltsbüros 800 und 1.500 Euro von mir.

Dass das ausgerechnet mir passierte, war ebenso peinlich wie passend. Inspiriert durch den schwunghaften Handel mit raubkopierten DVDs in meinen Gastländern, den Phi­lippinen und Kambodscha, hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt als Medienwissenschaftler seit zehn Jahren mit dem Phänomen der Medienpiraterie beschäftigt, eine Konferenz veranstaltet und eine Reihe von Aufsätzen zum Thema veröffentlicht. Und natürlich wusste ich, dass es in Deutschland Firmen gibt, die Jagd auf die IP-Adressen von Filesharern machen, und Anwaltskanzleien, deren Geschäftsmodell darin besteht, Internetpiraten abzumahnen.

Dass ich als Netzpirat erwischt wurde, hatte einen einfachen Grund: Ich hatte schlicht vergessen, dass ein kleines Programm namens µTorrent automatisch Bits und Bytes der Filmdateien von meiner Festplatte ins Internet pumpte, sobald mein Rechner mit diesem verbunden war.

In Deutschland hat die Film- und Musikindustrie viel Geld in die Strafverfolgung von Medienpiraten investiert. Und die meisten, die beim Datentausch erwischt werden, tun, was ich letztlich auch tat: Sie versuchen, die geforderte Abmahngebühr herunterzuhandeln, dann unterschreiben sie zähneknirschend eine Unterlassungserklärung und zahlen astronomische Abmahngebühren. In Deutschland verdient eine ganze Industrie von Winkeladvokaten mit Internetpiraterie gutes Geld.

Dass Medienpiraterie bestraft wird, leuchtet erst mal ein. Schließlich haben sich die Filesharer Musik, Filme oder Software angeeignet und weiterverbreitet, welche jemand anders geschaffen hat, der dafür auch bezahlt werden möchte. Andererseits machen sich die Piraten eine der grundlegenden Eigenschaften des Internets zunutze: Das Netz ist die perfekteste Kopiermaschine in der Geschichte der Menschheit; gebaut, um Daten schnell und verlustfrei von einem Rechner zum anderen zu kopieren. So betrachtet sind die Musik- und Filmpiraten also eigentlich nur besonders konsequente Internetnutzer.

Die Mutti von Netflix

Internetpiraterie ist für die Medienindustrie, was die sozialistischen Blockstaaten zur Zeit des Kalten Krieges für den kapitalistischen Westen waren: die Androhung einer Alternative zu ihrem System, ein Hinweis darauf, dass es auch anders geht. Nur diese permanente Bedrohung im Nacken brachte die Medienindustrie dazu, auf Vertriebsmethoden umzusteigen, die den technischen Möglichkeiten und Zuschauerwünschen im Zeitalter des Internets entsprechen. Ohne Piraterie gäbe es kein Strea­ming, kein Spotify, kein Netflix und keine Mediatheken – alles der technischen Gestalt des Internets entsprechende Vertriebsformen, die zunächst illegal betrieben wurden, bevor sich die Industrie dazu durchringen konnte, eigene legale Angebote zu machen.

Aber nicht nur die Medienindustrie, auch die Künstler haben von Piraterie profitiert – wenn schon nicht finanziell, so doch durch erhöhte Reichweite und Wahrnehmung. Heute hochgelobte US-Serien wie „The Wire“ oder die „Sopranos“ waren bei ihrer Erstausstrahlung zunächst keine rasenden Erfolge. Und verdanken ihre globale Durchsetzung auch einer internationalen Armee von Fans, die in ihren Blogs und sozialen Netzwerken jede Folge diskutierten und analysierten. Einige der enthusiastischen Fans veröffentlichten Mitschnitte von neuen Episoden Minuten nach ihrer Ausstrahlung im Internet. Dort wurden sie nicht nur oft von Millionen von Usern in der ganzen Welt heruntergeladen, sondern von eingeschworenen Teams binnen weniger Stunden in ihren Landessprachen untertitelt.

„Most pirated show in the World?“ „Ein Kompliment“, fanden die „Game of Thrones“-Macher

Die Macher der Serie „Game of Thrones“ haben die TV-Industrie der USA aufgebracht, indem sie auf die Bedeutung hinwiesen, die Piraterie für den internationalen Erfolg der Serie hat. Autor George R. R. Martin, Regisseur David Petrarca und HBO-Programmdirektor Michael Lombardo wurden mit dem stolzen Bekenntnis zitiert, dass die Serie die „most pirated show in the world“ sei, was „ein Kompliment“ sei.

Kein Welles, kein Godard

Doch vor allem ist Piraterie Teil eines Prozesses, den ich „Globalisierung von unten“ nenne – einer Globalisierung nicht der Konzerne, sondern der Liebhaber. Diese Form der Globalisierung konnte ich als Dozent am Filminstitut an der Universität von Manila aus nächster Nähe beobachten. Den Philippinen war – wie so gut allen anderen Ländern des „globalen Südens“ – für mehr als ein Jahrhundert der Zugang zum größten Teil des Weltkinos verwehrt. Hier war nie ein Film von Orson Welles oder Jean-Luc Godard ins Kino gekommen oder auf DVD erhältlich. Dasselbe gilt natürlich auch für einen signifikanten Teil des in Form von Literatur vorliegenden Weltwissens.

Am Filminstitut der Universität der Philippinen in Manila nun, an dem ich vier Jahre lang unterrichtet habe, gehörte es lange zum guten Ton unter Kollegen, die das Glück hatten, eine Auslandsreise machen zu können, alle Videofilme, die sie von dort mitbrachten, in unserem Fachbereich für den Gebrauch in der Lehre kopieren zu lassen. So kam mit der Zeit eine kleine, aber brauchbare Sammlung von Filmklassikern auf VHS zusammen, mit der man die Grundlagen von Filmgeschichte und -theorie vermitteln konnte. Niemand konnte es meinen Kollegen verdenken, dass sie mit Begeisterung zugriffen, als ab Ende der 1990er Jahre Piraten-DVDs und Filesharing-Dienste den Zugriff auf große Teile des Weltkinos erlaubten. Für die Lehrenden war es schlicht eine Methode, wenigstens in diesem Bereich die wirtschaftliche wie kulturelle Asymmetrie zwischen Erster und Dritter Welt aufzuheben.

Und es waren natürlich nicht nur Filme: Schon bevor Wissenschaftsverlage wie Routledge und Springer begannen, die Preise für Fachzeitschriften und -bücher in die inzwischen üblichen schamlosen Höhen zu treiben, war der Großteil der englischsprachigen Literatur für Hochschulen wie die Universität der Philippinen schlicht zu teuer. Als Konsequenz daraus hatte der philippinische Diktator Marcos in den 1970er Jahren die „Asian Edition“ erfunden – den Nachdruck von wichtigen US-amerikanischen Lehrbüchern, ohne dafür Lizenzgebühren an die Verlage zu bezahlen. Diese Praxis belastete jahrelange das Verhältnis zwischen den USA und den Philippinen und wurde nach dem Sturz von Marcos beendet.

Raub? Bildung!

Eine informelle Version der „Asian Edition“ hat allerdings bis heute überlebt: Zu Semesterbeginn stapeln sich in den unzähligen kleinen Copyshops auf dem Campus die fotokopierten Versionen von US-amerikanischen Einführungen in die Chemie, die Humanmedizin oder die Literaturwissenschaft. Ohne diese raubkopierten Lehrbücher wäre nicht nur in den Philippinen, sondern in vielen Ländern rund um den Globus schlichtweg keine akademische Ausbildung möglich.

Piraterie kann daher eine Quelle von Bildung sein und eine Einladung zur freien Rede. Ein Akt des Widerstands und eine Bedingung für neue Formen von Kreativität. Der Beginn eines Gesprächs über geistiges Eigentum unter den veränderten Konditionen, die durch das Internet entstanden sind. Piraterie handelt vom Zugang zu Wissen und Information und von den Grundlagen von Kulturproduktion und Autorschaft.

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