Krieg gegen die Ukraine: Rückzug aus der Ruinenstadt

Nach heftigen Kämpfen hat Russland die Stadt Awdijiwka eingenommen. Biden gibt dem US-Kongress eine Mitschuld, weil der Militärhilfen blockiert.

Zerbombte Gebäude

Eine seit Jahren umkämpfte Stadt, in der fast niemand mehr lebt: Awdijiwka, hier im April 2023 Foto: Libkos/AP

BERLIN taz | Nach neuneinhalb Jahren der Verteidigung und vier Monaten aktiver russischer Angriffe hat die ukrainische Armee am Wochenende die Stadt Awdijiwka in der Oblast Donezk aufgegeben. Diese Entscheidung wurde vom Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Olexandr Syrskyj, in der Nacht zum Samstag bekanntgegeben: „Aufgrund der operativen Situation um Awdijiwka habe ich entschieden, unsere Einheiten aus der Stadt abzuziehen und die Verteidigung auf günstigere Linien zu verlegen, um eine Einkesselung zu vermeiden und das Leben und die Gesundheit der Soldaten zu schützen“.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski nannte den Rückzug am Samstag auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine logische und professionelle Entscheidung, „um so viele Leben wie möglich zu retten“. Russlands Präsident Wladimir Putin gratulierte seiner Armee zu der Eroberung. Am Sonntag wurde die Ukraine erneut mit russischen Luftangriffen überzogen, Behörden meldeten mehrere Tote und Verletzte.

Seit vergangenem Oktober 2023 nahmen die Kämpfe um Awdijiwka deutlich zu. Russische Truppen führten 20 bis 60 Infanterieangriffe pro Tag durch, deutlich mehr als in anderen Gebieten. Russische Einheiten marschierten in Panzerkolonnen mit Fallschirmjägern nach Awdijiwka, verloren Ausrüstung in ukrainischen Minenfeldern und die überlebende Infanterie rückte weiter vor. Videoaufnahmen ukrainischer Drohnen zeigten, wie russische Soldaten über die Leichen ihrer Kameraden stiegen, aber weiter angriffen. Nach Angaben der ukrainischen Militärführung hat Russland bei den Kämpfen um Awdijiwka seit Oktober rund 50.000 Soldaten und 1.300 Stück militärisches Gerät verloren.

Militäranalysten weisen darauf hin, dass die russische Führung ohne Rücksicht auf Verluste immer mehr Infanterieeinheiten entsandte, was die ukrainischen Truppen schließlich daran hinderte, den Ansturm der überlegenen Kräfte aufzuhalten.

Kampf im 360-Grad-Radius

Den vorrückenden Truppen gelang es, die starke Verteidigungslinie, die die Ukrainer in acht Jahren vom Süden und Norden der Stadt aufgebaut hatten, zu durchbrechen und die Siedlung operativ einzukesseln. Bald gelang es den russischen Truppen, die einzige Straße in die Stadt abzuschneiden und die Feldwege unter ihre Feuerkontrolle zu bringen. Dies erschwerte nicht nur die Logistik der ukrainischen Einheiten, sondern auch die Evakuierung von Zivilisten und Verwundeten erheblich und machte die Straße zu einer „Todesstraße“.

Zuletzt warf die russische Luftwaffe täglich zwischen 50 und 120 Lenkbomben auf die Stadt und die ukrainische Garnison ab. Begleitet wurden diese Angriffe nicht nur von massivem Raketen-, Artillerie- und Drohnenbeschuss, sondern auch von Infanterieangriffen. Trotz der von der ukrainischen Armeeführung in der vergangenen Woche eingeführten Reserven überstieg die Zahl der russischen Truppen, die an der Offensive auf Awdijiwka beteiligt waren, die der ukrainischen Truppen um das Siebenfache.

In den letzten Tagen der Verteidigung der Stadt wurden die ukrainischen Einheiten schließlich eingekesselt. Laut einem der Kommandeure der dritten Sturmbrigade, die zur Verstärkung von Awdijiwka kam, mussten die Einheiten manchmal im Radius von 360 Grad kämpfen, um den Kessel zu durchbrechen. Nicht allen gelang es, aus der Stadt zu entkommen. Videos von gefangenen ukrainischen Soldaten kursieren bereits in russischen Propaganda-Blogs.

Militärexperten nennen zwei Hauptgründe für die Niederlage der ukrainischen Truppen bei der Verteidigung von Awdijiwka. Der Hauptgrund ist der kritische Mangel an Artilleriemunition angesichts der totalen Überlegenheit der Russen in Bezug auf Personal, Ausrüstung und Granaten.

Putin braucht Erfolge an der Front

US-Präsident Joe Biden machte denn auch die Blockadehaltung des Kongresses in Sachen Ukrainehilfen für den Fall von Awdijiwka mitverantwortlich: „Heute Morgen war das ukrainische Militär gezwungen, sich aus Awdijiwka zurückzuziehen, nachdem die ukrainischen Soldaten aufgrund der Untätigkeit des Kongresses ihre Munition rationieren mussten, was zu den ersten nennenswerten Gewinnen Russlands seit Monaten führte“, teilte das Weiße Haus am Samstag nach einem Telefonat zwischen Biden und Selenski mit.

Der zweite Grund sind die massiven russischen Luftangriffe mit gelenkten Bomben, die Gebäude bis auf den Boden zerstören und keinen Platz für Schutzräume lassen. Die ukrainische Armee verfügt nicht über ausreichende Luftabwehrsysteme, die entlang der Frontlinie eingesetzt werden könnten. Die wenigen Luftabwehrsysteme, über die die Ukraine verfügt, werden vor allem zur Verteidigung der großen Städte eingesetzt.

Der Wille der russischen Streitkräfte, Awdijiwka zu einem so hohen Preis einzunehmen, ist mit zwei Zielen verbunden. Zum einen soll mit Awdijiwka die Frontlinie von der seit 2014 besetzten und nur fünf Kilometer entfernten Stadt Donezk weg verlagert werden. Der zweite Grund ist politischer Natur: Der russische Präsident braucht kurz vor den Wahlen Siege an der Front. Awdijiwka, seit 2014 ein Symbol der Uneinnehmbarkeit, erfüllt diese Aufgabe perfekt.

Als das russische Militär die Ruinen der Stadt nun einnahm, die bis Februar 2022 rund

17.000 Einwohner zählte, lebten dort noch etwa 900 Menschen. Sie versteckten sich in den Kellern der zerstörten Häuser und weigerten sich, evakuiert zu werden. Nach der Eroberung der Stadt ist ihr weiteres Schicksal unbekannt.

Die russische Truppe, die Awdijiwka eingenommen hat, könnte nun in die Oblast Charkiw verlegt werden, um die Stadt Kupjansk zurückzuerobern, um die sich die Kämpfe bereits intensivieren. Wenn die Lieferungen westlicher Militärhilfe und Artilleriegranaten nicht so schnell wie möglich wieder aufgenommen werden, dürfte sich der Erfolg der russischen Armee bei der Eroberung ukrainischer Gebiete fortsetzen. Städte mit Hunderttausenden Einwohnern – Slowjansk und Kramatorsk – könnten die nächsten sein. Der Beschuss dieser Städte hat bereits zugenommen, nachdem die Frontlinie tiefer in die Oblast Donezk vorgerückt ist.

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