Eine Mauer durchzieht eine Landschaft.

Heiliges, geteiltes Land: Eine Mauer verläuft zwischen Bethlehem und Jerusalem Foto: Maja Hitij/getty images

Krieg im Nahen Osten:Nachbarschaftshilfe

Im Westjordanland war der Frieden zwischen Siedlern und Pa­läs­ti­nen­sern schon vor dem 7. Oktober weit weg. Zwei Initiativen wollen das ändern.

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8.1.2024, 11:48  Uhr

Es ist ein milder Tag Anfang November im israelischen Siedlungsblock Gusch Etzion, südlich von Bethlehem. Im nahen Einkaufszentrum schlendern junge Männer mit Kippa auf dem Kopf und Sturmgewehr um die Schultern durch die Geschäfte. Menschen ohne jüdische Kopfbedeckung sind kaum zu sehen. Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen, die früher entlang der Schaufenster nach dem letzten Schnäppchen Ausschau hielten oder sich einen Kaffee an den sauber polierten Tresen der Cafés und Restaurants bestellten, trauen sich nach dem 7. Oktober nicht mehr in israelische Läden. Selbst die, die es könnten oder vor dem Krieg gar in die Siedlungen durften, wie etwa Bauarbeiter, nicht mehr. Sie haben Angst.

Draußen scheint die Sonne auf die kaum befahrenen Schnellstraßen des Westjordanlandes, auf die bestellten Felder neben palästinensischen Dörfern und auf die umzäunten Siedlungen. Noch fühlt sich die Luft warm an. Genau ein Monat ist der Terrorangriff der Hamas her, die in Südisrael an einem einzigen Tag etwa 1.200 Menschen tötete und mehr als 200 entführte. Und der einen Gegenangriff Israels auf Gaza auslöste, bei dem bis heute mehr als 20.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Tendenz steigend.

Eine Karte des Westjordanlandes.

Außerhalb des Einkaufszentrums sitzt Israel Piekarsh auf einem Plastikstuhl und redet vom Frieden in einer Gegend und zu einer Zeit, die alles andere als friedlich sind. Piekarsh, 39 Jahre alt, robuste Figur, rundes Gesicht unter der kleinen, gehäkelten Kippa hat eine Vision – und Mission dazu. Piekarsh Ideen gelten vor allem unter Sied­le­r*in­nen nicht unbedingt als Mainstream. Und doch hofft er, dass genau diese Vision irgendwann die Zukunft Israels und Palästinas gestaltet. Er gehört zu einer Gruppe von jüdischen Menschen, die sich auf eigene Art und Weise vorgenommen haben, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen.

Piekarsh spricht von Akzeptanz, Versöhnung, Konsens, warmen Frieden. Den letzten Begriff wiederholt er mehrmals. Warmer Frieden als Gegenpol zum kalten Frieden, in dem sich beide Seiten nicht mehr angreifen, sich jedoch auch trennen und nicht einander anerkennen „Das wird hier nicht funktionieren. Nur Versöhnung, wenn wir die Rechte und die Geschichte von beiden Seiten anerkennen“, sagt er.

Diese Art der Versöhnung wirkt seit dem Angriff der Hamas meilenweit entfernt. Die aktuelle Spannung ist auch im Westjordanland zwischen Siedlungen und palästinensischen Dörfern greifbar. Eine Spannung, die sich über die Jahre hinweg angestaut hat und sich seit Beginn des Krieges immer häufiger in Gewalt entlädt.

Acht Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen sind laut dem UN-Büro OCHA seit dem 7. Oktober bei Angriffen von Siedlern gestorben, bei einer weiteren Person ist unklar, ob sie durch Siedler oder Soldaten umkam. Mindestens 92 wurden verletzt. Im selben Zeitraum sind vier Israelis, drei von ihnen Sol­da­t*in­nen durch Palästinenserattacken im Westjordanland und Ostjerusalem ums Leben gekommen.

Die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen fühlen sich auf ihrem eigenen Land angreifbar und ungeschützt. Sied­le­r*in­nen hingegen weisen die Schuld von sich und zeigen auf die Gewalt, die von Terrorgruppen wie der Hamas ausgeht. Jeder betrachtet das Westjordanland als sein eigenes Zuhause, nicht selten mit Exklusivanspruch. Palästina für die einen, Judäa und Samaria für die anderen.

Israel Piekarsh.

Hat eine Vision für das Westjordanland: Israel Piekarsh Foto: Serena Bilanceri

Trotz der Spannungen will Piekarsh den Glauben an den Frieden nicht aufgeben. Er ist Geschäftsführer einer von religiösen Sied­le­r*in­nen und laizistischen Israelis gegründeten Organisation. Anahnu, so heißt die Bewegung, bedeutet auf Hebräisch so viel wie „wir“. Ihre Mitglieder haben eine politische Vision für das Westjordanland. Sie fordern ein Ende der israelischen Besatzung, die Gründung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 und ein Recht auf Rückkehr der Palästinenser*innen. Auch Sied­le­r*in­nen sollen als doppelte Staats­bür­ge­r*in­nen bleiben dürfen.

Zwei souveräne Länder mit Minderheiten der jeweils anderen Ethnie, die ihre historische und kulturelle Bindung zum gesamten Gebiet anerkennen und in Frieden leben. Zwei Länder, die die Menschenrechtsverletzungen und Gewalt der letzten 75 Jahre auf beiden Seiten zugeben und auf Augenhöhe aufarbeiten. Eine Art Amnestie. „Kein Unrecht rechtfertigt anderes Unrecht“, betont Piekarsh immer wieder, während im Hintergrund melancholische israelische Poplieder aus dem Einkaufszentrum schallen.

Man könnte Piekarsh als Idealisten abtun, der an unrealisierbaren Träumen hängt, davon wimmelt es ja bekanntlich in Konflikten. Doch seine Vision ist ziemlich konkret. In einem 20-minütigen Video auf der Webseite des Vereins erklärt er, der 2005 selbst als Soldat in Gaza war und jetzt in einer Siedlung von Gusch Etzion lebt, wie die Zukunft des Heiligen Landes aussehen könnte. Es werden Hindernisse, Lösungen, Kompromisse, Pro und Contra skizziert.

Piekarsh komme eigentlich aus einem konservativen Umfeld. Die Erfahrung als Soldat in Gaza habe seine Sicht auf die Lage der israelischen und palästinensischen Gesellschaft jedoch verändert, sagt er. Die Zerstrittenheit der israelischen Gesellschaft, in der säkulare und religiöse Israelis selten auf einen gemeinsamen Nenner kommen, das Leid der palästinensischen Bevölkerung: Die Komplexität des Terrors in dem Gebiet.

Piekarsh hat bereits Treffen organisiert zwischen linken und konservativen Israelis und zwischen Sied­le­r*in­nen und Palästinenser*innen, um sie von seinen Ideen zu überzeugen. Im Gespräch ist ihm wichtig, dass die Vision des Vereins gänzlich wiedergeben wird. „Was die Hamas tat, hat nichts mit der israelischen Besatzung zu tun“, schickt er gleich zu Beginn vorweg. Und nach dem grauenhaften Angriff habe Israel „das Recht und die Pflicht, Israelis zu verteidigen. Das bedeutet aber nicht, dass wir den Glauben an Menschenrechte aufgeben sollten. Israel sollte Verantwortung übernehmen für die Menschenrechte von unbeteiligten Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Gaza.“

Er holt einen Kugelschreiber heraus und zeichnet auf ein Stück Papier eine Zeitachse. Dazu Sternchen als Ziele für die Zukunft des Westjor­danlandes: Die Teilungspläne mit einem getrennten Jerusalem als Hauptstadt beider Länder sind nicht neu, sie entsprechen der Zweistaatenlösung. Hinzu kommt die Idee zweier Minderheiten mit doppelter Staatsangehörigkeit und das Rückkehrrecht palästinensischer Geflüchteter, solange die jüdische Mehrheit in Israel bestehen bleibt. Israelische Truppen dürfen unter internationaler Beobachtung auf palästinensischem Boden stationiert sein und nur bei drohender Gefahr für Israelis eingreifen.

Dass dies für die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen ein Problem sein könnte, weiß Piekarsh. Auch, dass anderseits die Angst vor einem demografischen Übergewicht der Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in der israelischen Gesellschaft herumgeistert. „Unsere Lösung ist nicht perfekt. Beide Seiten werden Risiken in Kauf nehmen müssen. Denn die jetzige Lage ist die riskanteste. Wir, die jüdische Seite, stehen unter einer totalen Bedrohung. Plus, es gibt eigentlich keine ‚neuen‘ Risiken in unserem Vorschlag.“

Piekarshs Ziele sind nicht selbstlos. Die Vision des Vereins würde den Sied­le­r*in­nen erlauben, unter israelischem Schutz im Westjordanland zu bleiben. Dieser Punkt war bei Friedensverhandlungen schon immer kontrovers. Ob und unter welchen Bedingungen die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen dies akzeptieren könnten, ist fraglich. Die Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem stehen auf von Israel völkerrechtswidrig besetztem Land, nach internationalem Recht sind sie illegal.

Israel Piekarsh, 39, Geschäftsführer von „Anahnu Movement“

„Unsere Lösung ist nicht perfekt. Beide Seiten werden Risiken in Kauf nehmen müssen“

Entstanden nach dem Sechstagekrieg 1967, als Israel das Westjordanland und den Gazastreifen besetzte, sollten sie vor allem die Sicherheit Israels stärken und dem Land bessere Karten bei Verhandlungen sichern. Heute bestehen sie aus „tatsächlichen“ Siedlungen, meistens kleinen Dörfern mit gleich aussehenden Häusern, Schulen und Geschäften, und „wilden“ Außenposten als ohne Erlaubnis errichteten Gemeinschaften, in denen oft radikaler eingestellte Sied­le­r*in­nen leben. Diese sind sogar unter israelischem Recht illegal, auch wenn die Regierung in den vergangenen Jahren immer mehr ihnen legalisiert hat.

Etwa 700.000 Sied­le­r*in­nen in 279 Siedlungen leben nach Angaben der Vereinten Nationen im Westjordanland und Ostjerusalem. Laut der US-amerikanischen NGO Israel Policy Forum sind sie jeweils zu einem Drittel Ultraorthodoxe, religiöse Na­tio­na­lis­t*in­nen sowie Nicht-Religiöse. Einige wollen jenseits der sogenannten Grünen Linie wohnen, der Waffenstillstandslinie von 1949, weil sie das Westjordanland als israelischen Boden ansehen. Andere, weil die Häuser günstiger sind und teils von Israel, das die Hälfte der Siedlungen als rechtmäßig betrachtet, subventioniert werden. Die aktuelle Regierung will die Siedlungen sogar ausbauen. Bereits im Februar gab die Koalition unter Premierminister Benjamin Netanjahu bekannt, 10.000 neue Wohneinheiten genehmigen zu wollen.

Itamar Ben-Gvir, Minister für die Sicherheit Israels und selbst Siedler, tat laut Medienberichten Gewalt von Israelis als Vandalismus ab und kündigte an, 10.000 Gewehre an zivile Einsatzkräfte verteilen zu wollen, unter anderem an Siedler*innen. Finanzminister Smotrich, ebenfalls Siedler, hatte für „No-go-Zonen“ rund um die Siedlungen plädiert, was die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen an der dortigen Olivenernte hindern würden.

Die UN haben die Siedlungen als Hindernis auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden bezeichnet. Je mehr israelische Dörfer auf besetztem Land entstehen, desto schwieriger wird es für die Palästinenser*innen, einen eigenen Staat zu gründen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International beklagen, dass die Siedlungspolitik Israels die Rechte Tausender Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen durch Landenteignung, Kontrolle der Ressourcen und Bewegungseinschränkungen verletzt.

Das alles will Piekarsh nicht bestreiten. „Ich glaube, dass die Siedlungen in ihrer jetzigen Form illegal nach internationalem Recht und Teil eines Besatzungssystems sind“, betont er. „Aber sie haben ebenso ein großes Potenzial für Versöhnung in einer Zweistaatenlösung.“ Der 39-Jährige läuft in schwarzem T-Shirt über dem Parkplatz und zeigt auf eine Gruppe Häuser auf den Hügeln. „Dieses palästinensische Dorf ist ein Flüchtlingscamp von 1948. Viele, glaube ich, kommen aus den heutigen Kiryat Gat und Kiryat Malakhi in Südisrael. Die meisten Israelis hier wissen das nicht. Niemand hat es ihnen gesagt. Und ich weiß nicht, ob Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen vom Massaker an Juden in Hebron 1929 wissen. Aber wir können das ändern“, sagt er. In seiner Stimme schwingt eine unerschütterliche Zuversicht mit.

Folgt man vom Parkplatz aus einen Schotterweg zwischen Feldern und Brachflächen, erreicht man nach weniger als einem Kilometer eine kleine Farm, die von einer weißen Steinmauer eingegrenzt wird. Jenseits der Mauer sitzt Khaled Abu Awwad auf einer Holzbank und unterhält sich mit zwei Männern. Auf dem Tisch vor ihm liegen reife, helle Weintrauben auf einem Teller, hinter ihm ragen Obstbäume in die Luft. Ein Hund heult in der Entfernung. Hühner gackern in ihrem Stall, eine kleine Katze schleicht sich im Schatten zwischen den Beinen der Männer herum.

Abu Awwad, Mitglied der Familie des berühmten palästinensischen Friedensaktivisten Ali Abu Awwad, sagt: „Wir versuchen, einen Weg zu finden, um die Lage zu beruhigen“. Er sieht müde und etwas traurig aus. Er kennt Piekarsh schon seit einigen Jahren, sie schätzen sich gegenseitig. Abu Awwad ist der palästinensische Manager des Vereins Roots. 2014 gemeinsam von Sied­le­r*in­nen und Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen gegründet, setzen sich seine Mitglieder für ein friedliches Zusammenleben ein. Sie haben im Gegensatz zu Anahnu keine politische Vision, und wollen auch gar keine haben.

Ihr Ziel ist ein anderes: dass sich die Menschen näher kommen, dass sie sich überhaupt erst mal kennenlernen, diese Nachbarn, die sich jahrzehntelang nicht gesehen und gekannt haben. Dass das nicht leicht ist und es sehr viel Misstrauen gibt, gerade jetzt, das weiß Abu Awwad. Trotzdem gibt er die Hoffnung nicht so leicht auf.

Würde, Respekt, Zusammenleben, Glück. Auch Abu Awwad hat Wörter, die er wiederholt. „Bevor wir Lösungen auf den Tisch bringen, sollten wir die Menschen darauf vorbereiten, einander zu akzeptieren.“ Dies sei der erste Schritt auf dem Weg zum Frieden im Heiligen Land. Denn heilig sei dort das Leben noch mehr als das Land. Das sagt Abu Awwad und es könnte wie bloße Parole klingen, doch wer mit ihm redet, versteht, dass er es ernst meint. „Wenn du jemanden tötest, tötest du die gesamte Menschheit. Und wenn du jemanden rettest, rettest du die gesamte Menschheit“, zitiert er aus dem Koran.

Abu Awwad lehnt sich zurück auf ein Kissen mit arabischen Mustern. Er erklärt, wie sich Juden und Muslime oft gegenseitig missverstehen, wie sie sich misstrauen, wie dies jeden Versuch einer Lösung, eines Friedens untergräbt. Dann reicht er den Gästen den Teller mit den Weintrauben.

Auf der palästinensischen Farm, vor dieser friedlichen, nahezu idyllischen Kulisse, trafen sich früher Israelis, Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen und Ausländer*innen, um Diskussionen zu führen, zu Foto-Workshops oder Sprachkursen. Jung und Alt, Kinder und Erwachsene, Männer und Frauen. Inspirierend war das, und herausfordernd, sagen die Veranstalter. Es war Hoffnung. Vor dem Krieg.

Khaled Abu Awwad.

Reden ist doch Gold: Abu Awwad vom Verein Roots will, dass die Leute erst mal miteinander reden, statt gleich den Nahost-Konflikt lösen zu wollen Foto: Serena Bilanceri

Mit Beginn des Kriegs ist es schlagartig still geworden auf der Farm. Keine Jugendlichen mit Kippas und Schleiern, die Lebensgeschichten austauschen. Keine Kinder, deren Sprachen unterschiedlich klingen, die miteinander spielen. Keine Nachbarn, die sich nach Jahrzehnten endlich kennenlernen. Es sei für viele Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen wegen der Bewegungseinschränkungen nicht mehr möglich, ihre Dörfer zu verlassen, erklärt Rabbiner Hanan Schlesinger, Mitgründer von Roots am Telefon. Und selbst wer könnte, auf beiden Seiten, habe davor große Angst.

„Keine Seite ist bereit, das auszusprechen, was die andere Seite hören will.“ Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen verurteilten die Hamas-Attacke, jedoch immer mit Verweis auf die Besatzung, was Israelis als eine schwache Verurteilung deuten würden. Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen möchten hören, dass Israelis die Bomben auf Gaza verurteilen und für Waffenstillstand plädieren, doch die meisten Israelis könnten das nicht, weil sie sich durch die Hamas existentiell bedroht fühlten. „Niemand würde jetzt zu einem gemeinsamen Treffen kommen“, fasst Schlesinger zusammen.

Dabei ist genau das der Leitgedanke des Vereins: dass sich scheinbar unversöhnliche Perspektiven näher kommen, dass sich parallele Narrative kreuzen und fremde Welten berühren, wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick. Israelis und Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen lebten in der Westbank in komplett verschiedenen Welten, sagt Schlesinger. „Wir haben unterschiedliche Rechtssysteme, unterschiedliche Dörfer, unterschiedliche Verkehrswesen, haben eine andere Sprache und Religion, das Kalendersystem ist anders, die Schulen sind anders, alles ist getrennt“, listet er auf. „Wir wissen nichts voneinander.“ Für die Juden sei es so, als ob die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen nicht existierten. Die Dörfer der anderen seien, metaphorisch gesehen, „unsichtbar“.

Zwei Welten nebeneinander

Obwohl nur einen Katzensprung voneinander entfernt, unterscheidet sich das Leben unter Besatzung gänzlich von dem in den bewachten Siedlungen. Schlesinger nahm an einem Treffen zwischen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen und Israelis teil, redete zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Palästinenser. Und merkte zum ersten Mal, dass er eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte. Verunsichert, herausgefordert fühlte er sich. „Alles, was sie über uns denken, widerspricht dem, was wir über uns selbst wissen. Und umgekehrt.“ Es gab dann noch mehr Treffen, später war daraus Roots geboren.

Schlesingers Stimme klingt am Telefon engagiert und ruhig zugleich. Zur Zeit des Gesprächs ist er in einer Siedlung, nur einige Hundert Meter vom Einkaufszentrum sowie Abu Awwads Farm entfernt. Die Spannung, die manche Israelis und Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen mit Argwohn auf Initiativen wie Roots blicken lässt, macht auch vor den Feldern und Dörfern rund um die Farm nicht Halt. Angst vor weiteren Terrorangriffen auf der einen Seite, Angst vor Sicherheitsmaßnahmen, die auch unschuldige Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen treffen, auf der anderen Seite.

„Wir tun, was wir können“, sagt Schlesinger resigniert. Der Verein veröffentlicht Appelle gegen Online-Hetze, fordert in Gesprächen mit Rabbinern, dass sie sich öffentlich gegen Gewalt äußern, organisiert Zoom-Meetings über das Stiften von Frieden in Zeiten des Krieges. Damit es irgendwann wieder normal wird, dass sich Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen und Israelis im Supermarkt unterhalten.

Initiativen wie Roots und Anahnu sind noch überschaubare Graswurzelbewegungen. 500 Adressen zählt der Mailverteiler von Anahnu. Nicht jeder blickt mit Begeisterung auf Projekte, die einen Austausch zwischen den Israelis und Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen fördern. Als Schlesinger und seine Mit­strei­te­r*in­nen ein Summercamp für jüdische und palästinensische Jugendliche organisieren wollten, seien einige Sied­le­r*in­nen zum örtlichen Rabbiner gegangen, um sich zu beschweren. Groß sei die Angst gewesen, man wolle interreligiöse Ehen und Assimilation fördern, erzählt der 66-Jährige. Als der Geistliche das Summercamp besuchte und mit den Menschen redete, sei dann jedes Misstrauen verflogen.

Doch was die Zukunft für den Verein und das Land bereithält, das weiß Schlesinger auch nicht. „Ich habe buchstäblich keine Ahnung. Aber trotzdem weiß ich, dass Israelis und Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen am Ende in Frieden leben werden“, sagt er. Egal, ob dafür fünf, fünfzig oder fünfhundert Jahre nötig seien werden.

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