Kriegsverbrechen der Wehrmacht: Italienische Tote im märkischen Sand

Kurz vor Kriegsende werden italienische Zwangsarbeiter in Brandenburg ermordet. Eine neue Webdoku rekonstruiert ihre Geschichte.

Ein Mann sitzt im Gras zwischen Grabsteinen

Videostill aus der Doku „Im märkischen Sand“ Foto: imidoc

23. April 1945, 70 Kilometer südlich von Berlin: 131 italienische Zwangsarbeiter werden in eine Sandgrube geführt, erschossen und vergraben. 4 Menschen überleben dieses jahrzehntelang vergessene nationalsozialistische Verbrechen von Treuenbrietzen. Nach Kriegsende werden die Leichen exhumiert und von den Überlebenden größtenteils identifiziert. Die Angehörigen der Ermordeten erfahren nur vom Tod, nicht aber von den Umständen, wie ihre Väter, Brüder und Ehemänner ihre Leben verloren haben.

Bis heute wissen sie es nicht. Das Verbrechen an den ehemaligen italienischen Soldaten, die sich geweigert hatten, in der deutschen Wehrmacht zu kämpfen und deshalb in die Munitionsfabrik von Treuenbrietzen geschickt wurden, ist nicht aufgeklärt. Die deutschen Behörden hatten die Ermittlungen 1974 eingestellt. Waren es Mitglieder der SS oder der Wehrmacht? Die Beschreibung der Überlebenden sind nur vage und widersprüchlich.

Das Massaker fand in den letzten Kriegstagen statt. Einige Stunden nachdem die Italiener ermordet worden waren, eroberte die Rote Armee Treuenbrietzen und befreite das Zwangsarbeitslager. Der lokale Historikerstreit über die genaue Anzahl der deutschen Toten ist bis heute virulent. Das Massaker an den Italienern aber war bis weit in die 90er Jahre kein Thema.

Erst nach der Wiedervereinigung findet auf Initiative der beiden Berliner Lehrer Gianfranco Ceccanei und Bodo Förster die Aufarbeitung statt. Zufällig gelangt Cecanei an die Liste der Namen der Ermordeten und macht sich gemeinsam mit Förster auf die Suche nach Überlebenden. Sie sprechen mit ihnen, bringen sie nach Treuenbrietzen und sorgen letztlich dafür, dass die Suche nach den Verantwortlichen zumindest teilweise wieder aufgenommen wird. Sie erreichen auch, dass es nun seit einigen Jahren an jedem letzten Sonntag im April einen Gedenkmarsch durch das Dorf gibt, bei dem auch der italienischen Opfer gedacht wird.

Porträts der Nachgeborenen

Die drei Filmemacher Matthias Neumann, Nina Mair und Katalin Ambrus haben die Geschichte vom 23. April 1945 in Treuenbrietzen zwei Jahre lang recherchiert und nun eine beeindruckende Webdoku über das Massaker produziert. Seit dem Wochenende ist „Im Märkischen Sand. Nella Sabbia del Brandeburgo“ im Internet frei verfügbar.

Die Entscheidung, keinen linearen Film, sondern eine aus verschiedenen Teilen bestehende Webseite zu machen, haben die drei sowohl aufgrund des unterschiedlichen Materials, das sie zeigen wollten, aber auch wegen des einfacheren Zugangs, gewählt.

In 24 Einzelepisoden werden die historischen Hintergründe beleuchtet und die Angehörigen der italienischen Opfer, die Berliner Lehrer, die Treuenbrietzener Bürgermeister, Museumsleiter und ehrenamtlichen Erinnerungsarbeiter wie die Schüler des örtlichen Gymnasiums portraitiert.

Der letzte lebende Zeitzeuge, der mittlerweile 92-Järige Antonio Ceseri, der jedes Jahr nach Treuenbrietzen kommt, um am Gedenkmarsch teilzunehmen, erzählt in einem beeindruckenden Interview mit den Filmemachern davon, wie es war, als er 1999 zum ersten Mal über das Massaker gesprochen hat. „Dass die Welt nun davon weiß, hat etwas sehr befreiendes.“

Geschichte als subjektives Erlebnis

Ob nun auch die Webdoku für die beiden Töchter der Familie Kopp & Co, NS-Rüstungskonzern und Besitzer der Treuenbrietzener Munitionsfabrik, etwas befreiendes hat, wissen wir nicht. Immerhin aber haben es die Filmemacher gemeinsam mit den beiden Berliner Lehrern geschafft, sie vor die Kamera zu bekommen. Die Kopp-Töchter erzählen davon, wie sie in den 60er Jahren am Küchentisch über die Kapitalisten geschimpft, aber über die Geschichte ihres Vaters während des Nationalsozialismus nie gesprochen haben.

Die Webdoku „Im Märkischen Sand“ setzt nicht nur inhaltlich die Arbeit fort, die die beiden Berliner Geschichtslehrer begonnen haben. Sie ist auch in ästhetischer Hinsicht eine Weiterentwicklung. Für die historischen Teile haben die Filmemacher den italienischen Zeichner Cosimo Miorello engagiert. Im Stil einer graphic novel gehalten, bauen sich seine Zeichnungen der Szenen im Märkischen Sand nach und nach auf. Der Zuschauer sieht quasi live bei der Entstehung der Bilder zu. Abgesehen von den Passfotos der Ermordeten, haben die Filmemacher ansonsten bewusst auf die Verwendung historischer Aufnahmen verzichtet.

„Historisches Material tut immer so als bilde es Wirklichkeit ab“, erläutert der Autor, Produzent und Kameramann Matthias Neumann. „Dabei ist jedes Foto, jede Filmaufnahme gerade aus der Zeit des NS immer mit Ideologie und Propaganda verbunden“. Mit der Idee, einen Zeichner die Geschichte mit seinen eigenen Bildern erzählen zu lassen, wollten sie zeigen, dass historische Darstellung immer auch subjektiv ist.

In Treuenbrietzen ist das deutlich zu sehen. Der Leiter des Heimatmuseums ist bis heute der Meinung, dass auch die deutschen Soldaten Opfer waren und möchte, dass den Tätern wie den Opfern gleichermaßen gedacht wird. Wer also glaubt, die historische Aufarbeitung der NS-Geschichte sei abgeschlossen und eindeutig, irrt.

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