Kritik an der Auswilderung: Alles vergebens?

Etliche Arten wurden in Europa an den Rand der Ausrottung gebracht. Helfen: doch welche Auswilderungen sind sinnvoll?

1.900 Uhus wurden im Laufe der Zeit ausgesetzt, und heute zählt man wieder um die 1.400 Brutpaare der größten heimischen Eule. Bild: dpa

DEUTSCHLAND zeo2 | Bernd besuchte in diesem Frühsommer für einige Wochen Deutschland. Er flog zur Ostsee, flog über Schleswig-Holstein, über Mecklenburg-Vorpommern, machte einen Abstecher nach Polen, flog nach Bayern, und dann war er platt. Nach mehr als 3.000 Kilometern landete er in einem sächsischen Steinbruch, erschöpft. Bernd, eine fehlbenannte Bartgeier-Dame, wurde eingefangen und zwecks Rekonvaleszenz in den Zoo gebracht. Inzwischen ist sie/er wieder wohlauf und kreist über den Alpen – wie Dutzende andere Bartgeier auch.

Bernd ist ein Beispiel. Er stammt aus einem der erfolgreichsten Wiederansiedlungsprojekte, die es überhaupt in Europa gibt. Dank des 1986 von WWF und der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt initiierten Projekts leben heute wieder mehr als 100 Bartgeier in den Alpen. Damals war der Bartgeier fast ein Jahrhundert schon ausgerottet, damals wurden in Gefangenschaft aufgezogene Vögel in den österreichischen Hohen Tauern ausgewildert. 1913, vor genau 100 Jahren, hatte man im Aostatal den letzten Aasfresser vom Himmel geholt. Die Geier wurden gejagt, weil man ihnen fälschlicherweise das Töten der Schafe auf den Hochalmen anlastete. Ihr zweiter Name, Lämmergeier, klagt sie bis heute an.

Abgeschossen, vergiftet, der Lebensraum vernichtet. Es sind diese drei Gründe, weshalb in Europa etliche Tierarten an den Rand der Ausrottung gebracht wurden. Der Versuch, die Tiere, ob Falken oder Biber, zurück in die Natur zu holen, ist mühsam – wird jedoch oft belohnt. Es ist eine Erfolgsgeschichte der Naturschützer geworden. Ohne sie gäbe es keine oder nur sehr wenige Wanderfalken, keine oder kaum Uhus, Lachse oder Habichtskäuze – und mit Sicherheit würden keine Bartgeier über den Alpen schweben.

Dabei weiß niemand, wie viele Tierarten in Deutschland ausgewildert wurden. „Keiner zählt sie“, bedauert Andreas Krüß vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) in Bonn. Es bedarf keiner Genehmigung des Bundes, der Länder, manchmal haken bloß Landkreise die Projekte ab. Dabei ist für die staatlichen Naturschützer klar: „Nicht jede Auswilderung war wirklich sinnvoll“, sagt Krüß.

Lockmittel für Spenden

Doch Auswilderungen sind schon deshalb bei den Naturschutzverbänden populär, weil sie Eindruck schinden. Wiederansiedlungen sind Eyecatcher und Lockmittel für Spenden. Der Phantasie sind dabei kaum Grenzen gesetzt: Wenn Waldrapp oder Zwerggans mit Ultraleichtflugzeugen auf ihre Zugrouten gezwungen werden, dann gibt das immerhin tolle Fernsehbilder.

Und so findet sich immer wieder eine neue Art, der man mit menschlicher Hilfe auf die Sprünge helfen könnte. Mal ist es die Meerforelle, mal das Auerhuhn, dann wieder das Wisent, Großtrappe und Wachtelkönig. „Manches, was da geschieht“, kritisiert Stefan Stübing, Vize-Chef des Dachverbands Deutscher Avifaunisten, „ist etwas fragwürdig“.

Zumal auch Tierarten geholfen wird, die wahrscheinlich von ganz allein den Weg zurück in ihre alte Heimat gefunden hätten. Freilich: Die natürliche Rückeroberung dauert länger. Wie etwa bei der Moorente, einem viel bejubelten Projekt des Nabu Niedersachsen am Steinhuder Meer. Die Ente, die für den Laien einer Reiherente ähnelt, findet nämlich seit 20 Jahren auch ohne menschliche Hilfe den Weg zurück nach Deutschland. Acht oder neun, eventuell bis zu 20 Brutpaare, brüten in Sachsen oder Bayern. Muss man dann noch diesem Vogel, der über eine Enten-typische Flexibilität verfügt, auf die Sprünge helfen?

Es gelang nicht, das Auerhuhn im Odenwald oder im Sauerland wieder heimisch zu machen. Bild: dpa

Florian Melles, Projektleiter des Nabu am Steinhuder Meer, kennt die Bedenken: Stimmt überhaupt der Lebensraum? Wie hoch ist das Risiko, auf dem Flug ins Winterquartier über der Adria oder Frankreich abgeschossen zu werden? Kennen die ausgewilderten 129 Moorenten, deren Ahnen oft seit Generationen in Zoos in Köln oder Cottbus gelebt haben, noch natürliches Zugverhalten? Oder sind sie Stubenhocker geworden? Tatsächlich blieben etliche der befreiten Steinhuder Moorenten im letzten Winter in ihrer neuen Brutheimat. Dass einige gen Süden zogen, zeigt der Abschuss einer der Enten über Frankreich.

Melles argumentiert, dass die Auswilderung der Moorente, die europaweit noch nie gelang, nur ein Aspekt des Projekts ist: Denn mit der Lebensraumverbesserung, wie sie rund ums Steinhuder Meer stattfand, wurde nicht nur der Ente, sondern auch anderen Tieren geholfen. Etwa dem Laubfrosch, der sich seit seiner Wiederansiedlung 2005 extrem schnell ausbreitet.

Ganz ähnlich rechtfertigen Englands Naturschützer ihr scheinbar überflüssiges Kranichprojekt. Seit vier Jahren holen die Experten der Royal Society for the Protection of Birds – kurz RSPB - zusammen mit anderen Organisationen Kraniche auf ihre Insel. Dabei war der Schreitvogel bereits von ganz allein gekommen. Doch wie bei anderen Aktionen, dient die Wiederansiedlung nicht allein dem Kranich, sondern hilft, dessen Lebensraum zu renaturieren und damit auch ganz anderen Tieren und Pflanzen. Etwa dem Wachtelkönig, dem auch schon Wiederansiedlungsprogramme zuteil wurden.

Brandenburg im Frühjahr 2013: Beate Blahy und Nigel Jarrett stecken bis zu den Hüften im Sumpf. Die Rangerin vom Verein „Vielfalt Biosphäre Schorfheide-Chorin“ und der Ornithologe vom britischen Wildfowl und Wetland Trust (WWT) robben auf ein Kranich-Gelege zu.

Das haben die Vögel für Feinde schwer zugänglich inmitten eines dicht von Schilf bewachsenen Feldsolls angelegt. Dort, in der eiszeitlichen Senke, kann kein Fuchs das Paar bei der Brut stören. Nigel, Spezialist für die Aufzucht des Kranich-Nachwuchses, entnimmt dem Nest ein Ei – eines von 24 Eiern, das WWT und RSPB für die Auswilderung in Süd-England künstlich ausbrüten will: „The Great Crane Project“.

Fast ausgerottet

In Großbritannien wurde der Kranich vor gut vier Jahrhunderten ausgerottet. Der letzte Brutversuch stammt von 1542. Die Jagd (Kraniche galten als Delikatesse), aber auch der Lebensraumverlust sind die Gründe dafür, dass der Graue Kranich (Grus grus) dort nicht mehr vorkam. Sporadisch besuchten zwar einige Kraniche die Insel, sie waren vermutlich durch starken Wind im Herbst von ihrer Zugroute abgekommen.

Doch erst 1979 wurden in Norfolk erstmals wieder Kraniche dauerhaft gesichtet, darunter neben einigen vermutlich aus Norwegen über die Nordsee „verwehten“ Vögeln auch solche, die aus der Voliere entkommen waren. Gleichwie: Es entwickelte sich eine neue Population. Allerdings zunächst sehr langsam. Die Gruppe dümpelte lange Zeit bei einer Kopfstärke von 20 Vögeln.

Was tun? Warten, bis sie sich von selbst doch noch vermehren? Und Großbritannien doch noch auf natürliche Weise wieder Kranichland wird? Der RSPB verwies auf seine Erfolge bei Seeadler, Rotmilan und Zaunammer, das Jucken in den Fingern der Vogelschützer obsiegte, das Projekt begann. Obwohl sich just zum Start des Projekts die wilde Kranich-Population vermehrte und heute in den Grafschaften Norfolk und Suffolk wieder auf 50 Tiere angewachsen ist.

Ornithologen wie Klaus Richarz, bis vor kurzem langjähriger Leiter der Staatlichen Vogelschutzwarte in Frankfurt, gilt die nun doppelte Entwicklung der Populationen als „Indiz“ für eine manchmal nicht hilfreiche „Ungeduld“ der Naturschützer. Die nicht abwarten können, bis die Natur es von selbst wieder richtet. Diese Ungeduld steckte wohl hinter manchen Auswilderungen in Deutschland und angrenzenden Ländern. Beispiel Weißstorch, ein Projekt aus den Anfangstagen derartiger Aktionen. Tatsächlich war die Population des Storchs in den achtziger Jahren auf einem Tiefstand angelangt.

9.000 Paare lebten in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland, 50 Jahre später waren es keine 2.500 mehr. Doch dass sich der Weißstorch seit einigen Jahren im Steilflug befindet, das hängt keineswegs nur mit den Auswilderungen zusammen. Vielmehr, so Richarz, hat der Storch dank Klimawandel sowie vermehrtem Reis- und Maisanbau in den Mittelmeerländern seinen Zugweg abgekürzt. Er bleibt im Winter in Spanien oder Portugal hängen. Damit „hat der Storch sein Zugrisiko erheblich minimiert“, sagt der Ornithologe, die Verluste sind geringer als früher.

Wo der Biber Bäume fällt und Bäche staut, da vervielfacht sich bald die Zahl der Enten. Bild: dpa

Hinzu kommen die vielfältigen und oftmals erfolgreichen Versuche, den hiesigen Lebensraum für Störche zu verbessern. Auch beim Wanderfalken gilt heute als weitgehend gesichert, dass der schnelle Greif ohne Auswilderungen zurück gekommen wäre. Der Grund: Es gab trotz der durch das Gift DDT in weiten Teilen Deutschlands verschwundenen Wanderfalken noch frei lebende Bestände in Baden- Württemberg und Bayern. Die hätten zwar ausgereicht, um langfristig stabile Populationen auch im westlichen Deutschland zu begründen. Doch „aus der damaligen Sicht“, sagt Stübing, als keiner wusste, ob die Mini-Populationen im Süden der Republik ausreichen würden, „waren Zucht und Auswilderung sicher richtig“.

Heute gibt es mehr Wanderfalken als vor dem Niedergang durch die Chemieattacke in den 70er Jahren. Das weiß auch Wolfram Brauneis. Der Ornithologe hatte damals gerade „zwei Nächte Überlegenszeit“, ob er das Projekt machen wollte oder nicht. Heute geben ihm 1.250 Brutpaare Recht. Trotz des Erfolgs ging die Auswilderung der Wanderfalken bis vor kurzem weiter. Allerdings unter anderen Vorzeichen: Denn nun gilt es, neben den (wieder zahlreichen) Fels- und (wenigen) Bodenbrütern auch eine Baum brütende Population wieder aufzubauen, wie sie einst die norddeutschen Tiefländer besiedelte.

Auch dies gelang, mehr als 30 Paare dieser besonders geprägten Wanderfalken gibt es wieder. Das Umpolen von Fels auf Baum ist eine simple Sache: Etwa 18 Tage alte Wanderfalken-Küken werden auf einen Kunsthorst gesetzt und dort von Menschenhand aufgezogen. Dieses Bild ist prägend und wird an nachfolgende Generationen weitergereicht. Von allein kämen die Vögel nicht auf die Idee, vom Baum auf den Fels umzuziehen.

Bei Vögeln, bei denen die Vergiftung oder die Verfolgung Grund für die Vertreibung waren, sind die Auswilderungen meistens von Erfolg gekrönt. Neben dem Bartgeier und Wanderfalken trifft dies auch auf den Uhu zu, den Jäger und Eierdiebe an den Rand der Ausrottung gebracht hatten. 1.900 Uhus wurden im Laufe der Zeit ausgesetzt, und heute zählt man wieder um die 1.400 Brutpaare der größten heimischen Eule.

Touristen, Jogger und Kletterer

Anders aber verhält es sich, wenn der Lebensraum nicht mehr stimmt. Deshalb, weiß Richarz, gelang es zum Beispiel nicht, das Auerhuhn im Odenwald oder im Sauerland wieder heimisch zu machen. Urwaldartige Landschaften mit offenen Beerenarealen sind zu selten geworden. Etliche hundert Tiere wurden in die Restnatur unserer Wälder entlassen. Alles vergebens.

Wiederholt sich dieses Desaster bei der Birkwild-Auswilderung in der Rhön? Denn veränderte landwirtschaftliche Methoden, der Tourismus und die wachsende Zahl der Jogger und Kletterer lassen zweifeln, ob die scheuen Raufußhühner in der Rhön die ausreichende Ruhe finden. Dabei werden seit 2010 – mitten in der Balz – Hähne und Hennen in Schweden gefangen und blitzartig in die bayerisch-hessische Rhön transportiert.

„Eine genetische Auffrischung“ verspricht sich Torsten Kirchner, Gebietsbetreuer der bayerischen Wildland-Stiftung im Naturschutzgebiet Lange Rhön. Denn am Lebensraum soll es nicht liegen, dass seit Jahren Hahn und Henne nicht mehr zueinander finden. Andere rare Arten desselben Lebensraums wie Wachtelkönig, Raubwürger und Bekassine fühlen sich dort wohl.

700 Birkhühner waren es in den 60er Jahren in der Rhön, zuletzt zählten Kirchner und seine Mitstreiter noch eine Handvoll. Einen ersten Erfolg hat die Aktion, denn Kirchner konnte in diesem Frühjahr eine Rhöner Henne und einen schwedischen Hahn beobachten. Acht Eier waren das Ergebnis. Nach drei Jahren endlich wieder ein Gelege.

Der Rhön war zuvor unbekannt

Doch es gibt Auffälligkeiten. Manche Henne haut, kaum in der Rhön gelandet, gleich wieder ab. Mit unbekanntem Ziel. Und mancher schwedische Hahn balzt von der Spitze eines Baumes. Das war in der Rhön zuvor unbekannt. Denn dies ist eine offene Wiesen- und Strauchlandschaft, die mühsam von störenden Fichtenriegeln befreit wurde. Ob sich die Schweden-Hühner integrieren? Kirchner zumindest ist guter Dinge.

Die Wiederansiedlung einzelner Tierarten hilft dem Öko-System insgesamt. Das zeigt sich auch bei Biber und Lachs. Der Biber ist „der“ Landschaftsgestalter. Wo der Biber Bäume fällt und Bäche staut, da vervielfacht sich bald die Zahl der Enten, Wasserrallen und Zwergtaucher; da jagen und brüten Eisvögel, sirren Libellen durch die Luft, die sonst dort nicht mehr vorkommen würden.

Beim Lachs hingegen muss der Mensch die Flüsse erst wieder Lachs-tauglich machen. „Letztlich profitiert jede wandernde Fischart “, ob Maifisch oder Flussneunauge, sagt Jörg Schneider, der in Hessen und Rheinland-Pfalz die Wiederansiedlung des Lachses koordiniert. „Jeder Politiker freut sich, wenn der Lachs zu ihm zurückkommt“, doch „alle tun sich schwer, etwas dafür zu tun“.

Denn durch den schwierigen Bau von Fischtreppen oder die Beseitigung von Sperrriegeln geht das ehrgeizige Lachs-Projekt kaum voran. Es ist weiter offen, ob die vor 20 Jahren begonnenen Auswilderungen wirklich funktionieren. Mehr als 300.000 ein- oder halbjährige Lachse, das Stück zu 30 Cent, werden jedes Jahr eingesetzt, doch die Zahl der Rückkehrer aus dem Meer ist denkbar klein. „Aber es gibt welche“, sagt der Biologe, der inzwischen etliche Laichplätze des Lachses kennt.

Beim BfN ahnt Krüß, dass die Population nach wie vor vom steten Neubesatz abhängen könnte. Auch Schneider beobachtet mit Sorge, dass „die Sterblichkeit der Lachse im Meer zugenommen hat“ und das Wachstum der Fische im Meer zurückging. Fehlende Nahrung? Veränderte Meeresströmungen? Parasiten? Der Biologe weiß es nicht. Nur eines ist gewiss: Mancher Angler kann vom streng geschützten Lachs nicht lassen. Er holt ihn illegal aus dem Fluss.

Stephan Börnecke, den Artikel können Sie gerne auf unserer Facebook-Seite diskutieren. Der Text ist erschienen in der Ausgabe zeo2 1/2014.