Kyiv Symphony Orchestra in Gera: Musik als Waffe

Viele Ukrai­ne­r:in­nen sind vor dem russischen Angriffskrieg geflohen. Das Kyiv Symphony Orchestra hat in Gera zeitweilig eine neue Heimat gefunden.

Der Dirigent des Kyiv Symphony Orchestra steht mit dem Rücken zum Publikum und dirigiert die Musik zu "Metropolis", vor ihm das Orchester

Das Kyiv Symphony Orchestra bei der musikalischen Begleitung zum Stummfilm „Metropolis“ in Gera Foto: Jacob Queißner

„Guten Morgen, wir haben Krieg. Die Probe fällt aus.“ Diese nüchterne Nachricht schrieb der Intendant des Kyjiwer Sinfonieorchesters Olek­sandr Zaitsev am 24. Februar 2022 in den Gruppenchat des Orchesters. Noch am Tag vorher hatten sie geprobt, denn für den 4. März war ein Konzert mit dem deutschen Opernsänger Matthias Goerne geplant.

In den besonders unsicheren Tagen nach Beginn der Invasion entschieden sich sodann viele Mitglieder aus Kyjiw und der Ukraine zur Flucht. Irgendwann stellte das Orchester eine Anfrage an das Kultusministerium der Ukraine, ob man nicht als Gesamtes ins Ausland gehen könne. Zu diesem Zeitpunkt sprach man in der Ukrai­ne auch von der „kulturellen Front“, bei der es um den Fortbestand der ukrainischen Kultur geht. Das Ministerium antwortete, dass dies möglich sei, wenn das Orchester eine Einladung aus dem Ausland erhalte.

Die kam schließlich durch die Künstleragentur KD Schmid: In nur drei Wochen organisierten sie die Konzerttour „Voice of Ukraine“, die das Orchester einmal quer durch Deutschland führte. „Als ich unsere Musiker anrief, um sie zu bitten, an dieser Tournee teilzunehmen, befanden sich einige von ihnen in ihrer Heimat bereits in den besetzten Gebieten“, erinnert sich Intendant Zaitsev. „Einige befanden sich auch in einem Schockzustand und nahmen nicht einmal die Instrumente in die Hand.“

Alle auf die Tour mitzunehmen, gestaltete sich daher als schwierig. Zumal viele ihre Familien und Haustiere nicht zurücklassen wollten. Insgesamt waren es mit den Familienmitgliedern 130 Personen, die nun auf Tour gingen. Erste gemeinsame Station außerhalb des Landes war die Nationalphilharmonie in Warschau, wo das Orchester vor der Tour üben konnte. Am 21. April spielte es dort den Auftakt der Konzerttour, danach ging es weiter über Łódź nach Deutschland.

Längerfristige Unterbringung schließlich in Gera

Mit dem Ende der Tour im Juni drängte die Frage nach einer Perspektive außerhalb der umkämpften Ukraine in die Gegenwart der Musiker. Ihren Probenort in Kyjiw können sie aktuell nicht nutzen. Eine längerfristige Unterbringung konnte schließlich im ostthüringischen Gera gefunden werden. Es war die Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne), die im Austausch mit Oberbürgermeister Julian Vonarb (parteilos, ehemals CDU) eine Bleibe und einen Probenort für das Orchester organisierte; die Tonhalle in Geras Innenstadt. Dienlich war in diesem Falle ausgerechnet der große Wohnungsleerstand in Gera. So war es ein Leichtes, die Musiker samt Entourage unterzubringen. Schon zuvor zeigte sich die Stadt der Ukraine solidarisch gegenüber.

Dem Orchester gefällt es hier. „Gera ist eine schöne und ruhige Stadt“, sagt Intendant Zaitsev. Während Gera eher für den Maler Otto Dix, die vielen Villen oder die Bundesgartenschau 2007 bekannt ist, ist ihm und dem Orchester noch etwas anderes aufgefallen: „Es ist interessant, aber hier in Gera gibt es das klarste trinkbare Wasser. Im ganzen Jahr waren wir in vielen Orten in Deutschland und hier ist es am besten.“ Auch wenn sich die 96.000 Einwohner große Stadt deutlich von der Metropole Kyjiw unterscheidet, sind die Musiker und Musikerinnen insgesamt zufrieden. „Es ist sehr bequem für uns“, findet Cellist Vasyl Yurchak, der, wie alle im Orchester, Gera sehr dankbar ist.

Aber nicht alles in Gera ist angenehm. Durch die Stadt, in deren Osten zu DDR-Zeiten Uran für die Sowjetunion abgebaut wurde, läuft seit Dezember 2021 jeden Montag eine Demonstration direkt an der Tonhalle vorbei. Angeführt von Personen und Gruppierungen aus dem extremen rechten Spektrum, richtet sie sich gegen vieles, aber hauptsächlich gegen die Regierung. Auch Teile der AfD-Stadtratsfraktion (der größten in Gera) laufen mit. Dabei hatte sich die Demo-Orga zuletzt von der AfD abgewandt und einen eigenen Verein gegründet. Von anfangs rund 4.000 Menschen, die ihren Frust und ihre Sorgen auf die Straße trugen, sind nur noch rund 300 übrig geblieben. Ihre rechte Gesinnung zeigen sie dabei schon länger offen. Einige der Protestierenden tragen Reichsflaggen, Russlandfahnen, mitunter sogar Putin-Shirts.

„Ich war irritiert, als ich es zum ersten Mal sah“, erzählt die Cellistin Daria Dziadevych, die die Russlandbegeisterung im Ort wie andere Orchestermitglieder nicht nachvollziehen kann. Generell spüre sie in Gera einige „Post-Sowjetunion-Vibes“. „Es schmerzt einfach so sehr“, offenbart die Vio­linistin Tetiana Bahrii. „Eine Demokratie sollte meiner Meinung nach nicht die Unterstützung von Morden, der Zerstörung von Städten, von Vergewaltigungen und Folter und all den schrecklichen Dingen, die die Russen tun, dulden. Im Kontext des Kriegs gegen die Ukraine wird das zur Propaganda für die Unterstützung ihrer Verbrechen.“

Zaitsev ignoriert die rechten Demonstranten einfach

Der Widerstand in Gera gegen die rechte Demo ist klein. Zu Beginn bildete sich jeden Montag eine Menschenkette von rund 50 bis 150 Personen aus dem demokratischen Spektrum. Als der Krieg begann, waren jedoch einige in solidarische Aktivitäten, wie Spendensammeln, eingebunden, sodass die Gegenproteste abebbten. Im Februar ging das Video einer Aktion in den sozialen Medien viral. Zu sehen war, wie die rechte Demonstration auf dem Marktplatz von Gera mit Zirkusmusik begleitet wird. Intendant Zaitsev wiederum ignoriert die rechten Demonstranten einfach. „Lasst uns mehr gute Dinge tun, um weniger Platz für die schlechten Dinge zu schaffen“, findet er. „Unsere Kunst, unsere Musik ist unsere Waffe.“

Neben altbekannten Komponisten wie Beethoven, Mahler und Verdi spielt das Kyiv Symphony Orchestra vermehrt Stücke von ukrainischen Komponisten, wie Myroslav Skoryk, Yevhen Stankovych, Borys Lyatoshynsky und Levko Revutsky. Bei vielen Auftritten kamen die Leute auf das Orchester zu und wollten mehr über die Musik und ihre Urheber erfahren.

„Durch das Spielen ukrainischer Musik können wir den Menschen von der Ukraine erzählen“, fasst Violonistin Bahrii die Aufgabe des Orchesters zusammen. Sie ist noch nicht lange dabei, ebenso wie ihr Mann, der als Tontechniker beschäftigt ist. Der Krieg habe ihnen noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig ihre Arbeit sei. „Es ist noch kein großes Verdienst, ein gutes Orchester in einem Land zu haben, aber wenn ein Land einige schöne Kulturprojekte hat, bedeutet das, dass das kulturelle Niveau mehr oder weniger in Ordnung ist“, erklärt Klarinettist Dmytro Pashynskyi.

Jeden Tag erreichten ihn schlimme Nachrichten aus der Heimat und es gäbe genügend Gründe, nicht musizieren zu können. „Für uns als Musiker ist das Leben hier jetzt besser“, beschreibt Bahrii das Gefühl, „aber mental sind wir die ganze Zeit in der Ukraine.“ Ihre Kollegin Dziadevych fasst die Lage zusammen: „Wir können uns nicht ablenken, wir müssen spielen.“ Und spielen tun sie täglich, im Tanzsaal der Tonhalle, auch wenn die Akustik nicht so gut ist, wie in ihrem Saal in Kyjiw. Aber ohne die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen und in Gera Station zu beziehen, hätte sich das Orchester vermutlich schon aufgelöst.

Die Notwendigkeit in jedem Ton

„Seit Beginn des Krieges spiele ich die Musik auf eine andere Art und Weise“, erzählt Bahrii. Einen Unterschied merkt auch Chefdirigent Luigi Gaggero: „Sie sind noch präsenter, denn sie spüren heute noch mehr als sonst die Notwendigkeit in jedem einzelnen Ton.“ Der Italiener, der zusätzlich Professor für Zymbal in Straßburg ist, dirigiert das Orchester seit 2018. Er unterrichtet auch den Nachwuchs. Allein 2023 gab es zweimal eine Dirigenten-Masterclass in Gera, bei denen junge Musiker aus der Ukraine und der ganzen Welt das Handwerk zu perfektionieren lernen.

Seit dem Verlassen der Ukrai­ne hat das Orchester in vielen verschiedenen Orten gespielt, darunter auf dem Nato-Gipfel in Madrid, in der Pariser Philharmonie und auf den Kanarischen Inseln. „Wir öffnen die ukrainische Kultur und Musik für Europa“, formuliert es Zaitsev. Die Berliner Philharmoniker, die die Schirmherrschaft übernommen haben, nannten das Orchester erst kürzlich in einem Brief „einen der größten Kulturbotschafter der ukrainischen Kultur“.

Wie lange das Kyiv Symphony Orchestra noch in Gera bleibt, ist unklar. Weitere Auftritte stehen dafür bereits fest: Am 3. September wird in Prag das „War Requiem“ von Benjamin Britten gespielt, danach folgt am 10. September ein Auftritt in der Berliner Philharmonie und in Gera liefern sie am 21. Oktober die musikalische Begleitung zum Stummfilmklassiker „Nosferatu“. Bis zum August 2024 soll es in jedem Monat mindestens ein Konzert geben. „Wir haben jetzt eine Aufgabe“, sagt die Cellistin Dziadevych, „und wir hoffen wirklich, dass es hilft.“

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