Leben im Funkloch: Null G in NRW

Wenn Holger Hengersbach mobil telefonieren will, muss er auf einen Berg fahren. In seinem Dorf Brenschede gibt es keinen Empfang und kaum Internet.

Eine bergige Landschaft

Unter allen Wipfeln ist Ruh Foto: Sebastian Johann/Unsplash

BRENSCHEDE taz | Wenn Holger Hengesbach seine SMS abholen will, steigt er in seinen Mitsubishi Pajero. Im Geländewagen biegt er vom Hof ab und rollt einen Feldweg rauf zum Weidentor. Dort steigt er aus, zieht das Tor auf, steigt wieder ein, fährt durch – steigt wieder aus, drückt das Tor zu und schwingt sich hinters Steuer. Der Wagen brummt die Weide hoch, einen steilen Hang hinauf. „Zum Glück sind keine Kühe auf der Weide“, sagt er und der Pajero ruckelt, „sonst müssten wir uns noch kümmern, dass sie nicht wegrennen oder vors Auto laufen. Kühe sind sehr neugierig.“

Auf einer Höhe von 450 Metern über dem Meeresspiegel zieht Holger Hengesbach die Handbremse. „Hier ist so der Bereich, wo der Mobilfunkempfang beginnt.“ Er zückt sein Handy und steigt aus. Unter ihm im Tal quillt Rauch aus den Schornsteinen.

Brenschede, wo Holger wohnt, liegt im Sauerland, 60 Kilometer von Dortmund entfernt. Im ganzen Dorf gibt es kein Netz, von keinem Anbieter. Etwa 65 Menschen leben hier in einem Funkloch: Seit Jahren kämpfen sie um Empfang. Bisher vergeblich. „Kein Handynetz, kein 1G“, sagt Hengesbach. „Wir haben gar nichts. Wir haben 0G.“ 0G, das bedeutet null Empfang. Dabei sind Politik und Technik heute damit beschäftigt, den Mobilfunk-Standard noch weiter zu erhöhen – bis auf 5G.

In anderen Gemeinden sieht es nicht viel besser aus. „In einer Nachbargemeinde ist ein Mitarbeiter der Stadtwerke immer in seiner Küche gefangen, wenn er Bereitschaft hat. Das ist der einzige Raum, in dem sein Bereitschaftshandy Netz hat. Wenn er sie verlässt, verletzt er seine Dienstpflichten. Die Küche ist sein persönliches Gefängnis.“ In einem anderen Dorf hat man um das Haus eines Feuerwehrmanns alle Bäume gefällt: „Seitdem geht sein Handy drinnen wenigstens ein bisschen.“

Die 4G-Abdeckung beträgt 65 Prozent

Was die sogenannte 4G-Abdeckung betrifft, liegt Deutschland noch hinter Albanien. Das britische Unternehmen Open Signal hat die Netzabdeckung in Europa erfasst: Demnach ist die Lage in Norwegen am besten, mit einer 4G-Abdeckung von 92 Prozent. Albanien kommt auf 67, Deutschland auf 65 Prozent. Platz 32.

Die Funklöcher sind so zahlreich, dass Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) kürzlich sagte: „Ich habe inzwischen meinem Büro erklärt, dass ich bitte auf Fahrten nicht mehr mit ausländischen Ministerkollegen verbunden werden will, weil es mir total peinlich ist, wenn ich dann dreimal, viermal neu anrufen muss, weil ich jedes Mal wieder rausfliege.“

Holger Hengesbach

„Kein Handynetz, kein 1G. Wir haben gar nichts. Wir haben 0G“

Holger Hengesbach wäre schon glücklich, wenn er hin und wieder rausflöge. Würde das doch bedeuten, dass er auch mal ein Netz hätte. Hat er aber nie, nur hier oben auf dem Berg. Als er sein Handy anschaltet, pingt es wie eine betrunkene Fee. Ding, ding, ding – „verpasste WhatsApp-Nachrichten kommen jetzt rein“– ding, ding, dong – „ein entgangener Anruf“ – dong – „noch’n entgangener Anruf“ – dong – „noch’n entgangener Anruf“ – ding, ding, ding – „91 neue Nachrichten!“ Holger Hengesbach runzelt die Stirn. Obwohl Samstag ist, sind einige Nachrichten beruflicher Natur.

„Mein Chef schüttelt nur den Kopf“

Seinen Hof in Brenschede betreibt Holger Hengesbach nebenbei: Hauptberuflich arbeitet der 35-Jährige als IT-Spezialist. Sein Arbeitgeber produziert 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Hengesbach hat dafür zu sorgen, dass die Software funktioniert. „Manchmal komme ich montags rein und alle gucken mich böse an. Dann weiß ich: Da war wieder was.“ Zum Glück habe seine Unerreichbarkeit für ihn bisher keine ernsten Folgen gehabt. „Mein Chef hat da Verständnis. Er schüttelt nur den Kopf, dass es so was noch gibt.“

Drei Jahre ist es her, da hatte der damalige Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) gesagt: „2018 sind dann auch alle lästigen Funklöcher in Deutschland geschlossen.“ Nun ist 2018 fast vorbei. Die Funklöcher sind noch da. Und Dobrindts Nachfolger Andreas Scheuer (CSU) will das Problem bis Ende 2021 gelöst haben. Eine durchgängige Netzabdeckung „gehört zur Grundversorgung“, sagte er. Wenn Holger Hengesbach versucht, im Wohnzimmer etwas im Internet nachzuschauen, lacht ihn der Browser aus. „Hier kommt der sympathische Dinosaurier: ‚Bitte stellen Sie eine Verbindung her.‘“ Holger legt das Handy weg. „Wir sind hier in der Dinosaurierzeit.“

Nur oben auf dem Berg zeigt sein Handy etwas anderes an als „Kein Netz“. Hier zeigt es „E“. Das steht für „Edge“ wie Kante: Es gehört zur Generation 2G und ist viel, viel langsamer als das 4G. GroßstädterInnen treibt das „E“ in U-Bahnen regelmäßig zur Verzweiflung. Aber Holger Hengesbach freut sich. „E ist gut. Mit E kann man surfen!“

An Edge sieht man auch, dass das mobile Internet in Deutschland nicht erst seit Kurzem hinterherhinkt. In der Schweiz war es 2005 mit einer Bevölkerungsabdeckung von 99,6 Prozent ausgebaut. Da hatte die Telekom den Ausbau in Deutschland noch nicht einmal angefangen. Das tat sie 2006. Um ein Bild zu suchen und zu laden, braucht Holger Hengesbach mehr als zwei Minuten. Doch Warten mache ihm nichts, sagt er. Er sei es gewohnt. Das Wetter sei ja gut heute. „Hauptsache, Netz.“

Ein Fortschritt ist in Brenschede nicht in Sicht

Wenn im Frühjahr 2019 die 5G-Frequenzen versteigert werden, wird Holger immer noch auf dem Berg seine SMS abholen müssen. Die Bundesregierung hat angekündigt, das Telekommunikationsgesetz zu ändern und „lokales Roaming“ vorzuschreiben. Damit könnten in einem Funkloch alle kostenlos das Netz eines anderen Betreibers nutzen, falls es eins gibt.

Die Netzbetreiber protestieren: Die Telekom ließ wissen, wenn sie die Konkurrenz auf ihre Antennen lassen müsse, entwerte das Investitionen in Funkmasten. Auch die Bundesnetzagentur sagt, es sei „fraglich, ob und in welchem Umfang ein Netzbetreiber in den weiteren Netzausbau – insbesondere im ländlichen Raum – investieren wird, wenn er im Nachhinein Wettbewerber auf sein Netz lassen muss“.

Holger Hengesbach lacht darüber. „Die Netzbetreiber? Investieren? In den ländlichen Raum? Seit Jahren haben wir hier null Funkmasten: Den einen, den es gab, hat man abgeschaltet. Hier wohnen zu wenig Kunden.“ Hengesbach hatte auf andere Versteigerungsauflagen für 5G gehofft. „Man könnte den Netzbetreibern vorschreiben, eine bestimmte Prozentzahl der Fläche zu versorgen“, sagt er. Entschieden hat die Bundesnetzagentur anders:

Bis Ende 2022 sollen mindestens 98 Prozent der Haushalte in Reichweite eines schnellen Netzes sein. Außerdem sollen weitere Funklöcher bis Ende 2024 geschlossen werden, durch Ausbau an allen Bundes- und Landstraßen, Zugstrecken, Häfen und wichtigen Wasserstraßen. „Für Orte wie Brenschede ändert das nichts“, sagt Holger Hengesbach. „Wenn 5G kommt, haben wir immer noch 0G.“

„Es gibt hier inzwischen mehrere Häuser, bei denen wissen wir nicht, wer sie übernehmen soll“, sagt Hengesbach. Zuzug gebe es selten. „In den letzten Jahren ist eine Familie von außerhalb hergezogen. Sie wussten Bescheid, dass es hier weder Mobilnetz noch DSL gibt. Aber sie meinten, das ist nicht schlimm. Es ist ja sehr schön hier.“ Keine zehn Monate später sei die Familie wieder weggezogen. „Es war ein zu starker Verlust an Lebensqualität für sie. Sie haben das unterschätzt.“ Holger Hengesbach streicht über sein Handy. „Es ist wohl schwer, sich das als Alltag vorzustellen, wenn man es nicht kennt.“

Mit lockeren Auflagen bringt eine Versteigerung dem Staat mehr Einnahmen. Durch die Versteigerung von 3G-Lizenzen im Jahr 2000 flossen über 50 Milliarden Euro in die Staatskasse. Noch 2015 zahlten Telekom, Vodafone und O2 insgesamt über 5 Milliarden für Frequenzen. „Wir erwarten, dass die Auktion einen starken Impuls für einen raschen Ausbau der Breitbandnetze insbesondere im ländlichen Raum setzt“, sagte damals der Präsident der Bundesnetzagentur, Jochen Homann.

Internet gibt's nur per Satellit

Davon hat Holger Hengesbach nichts bemerkt: In Brenschede hat er nicht nur kein Handynetz. Auch mit dem Internet ist es schwierig. Das bekommt er nur über Satellit: 45 Euro im Monat für 25 Gigabyte. „Netflix oder Amazon Prime, so etwas kann ich nicht nutzen. Ich hab zwei Schränke voll mit Discs.“ Seine Steuererklärung macht er auf Papier. „Die Reaktion des Finanzamtes ist, dass sie das nicht annehmen und mein Einkommen geschätzt worden sei. Jedes Jahr. Einer meiner Nachbarn ist Berufsfußballer, aber Champions League streamen, das kann er hier nicht.“

Mobiles Internet ist in Deutschland viel teurer als im EU-Durchschnitt. Für 25 Euro bekommt man hier etwa 15 Gigabyte im 4G-Netz: in Dänemark und den Niederlanden gibt es dafür unbegrenztes Volumen. In Litauen kostet unbegrenzt 4G rund 16 Euro, und in Frankreich gibt es für 20 Euro immerhin 100 Gigabyte. VerbraucherschützerInnen und Monopolkommission warnen schon lange, die Konkurrenz sei zu klein: In Ländern mit drei oder weniger Anbietern seien Preise hoch, ebenso dort, wo Mobilanbieter auch Festnetzbetreiber seien.

Beides trifft auf Deutschland zu. Nur Telekom, Vodafone und O2 haben eigene Netze. Sie begründen Preis­unterschiede damit, dass die Staaten nicht vergleichbar seien. Obwohl EU-weit die Roaming-Gebühren abgeschafft wurden, ist EU-Konkurrenz praktisch ausgeschlossen: Einen ausländischen Mobilfunkvertrag darf man in Deutschland nur drei Monate lang nutzen.

Bei Schlechtwetter hilft nur höher den Berg hinauf

Für Holger Hengesbach ist ein Lichtstreif, dass er bald immerhin Internet über Kabel bekommt. „Mit Zuschuss aus Steuergeldern hat die Telekom Kabel verlegt.“ Verträge könnten die Menschen in Brenschede vorerst nur bei der Telekom abschließen. „Das DSL wird stark gedrosselt sein.“ Was den Mobilfunk betrifft, stellt sich Holger auf weiteres Warten ein. „Wir kämpfen seit Jahren. Aufgeben werde ich nicht.“ Bis das Netz nach Brenschede kommt, wird Hengesbach weiter auf 450 Metern über dem Meeresspiegel seine SMS abholen – bei gutem Wetter. „Manchmal ist der Berg nicht hoch genug. Wenn’s trüb ist – so Feuchtigkeit, Regen –, dann ist der Mobilfunk selbst hier oben weg. Dann muss ich höher fahren, tief in den Wald rein. So kann ich nochmal 50 Höhenmeter gewinnen. Die helfen meist.“

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