Lebensumstände russischer Migranten: Wenn Krieg dein Leben verbessert

Es ist fast ein Tabu unter denjenigen, die Russland nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine verlassen haben. Doch einigen geht jetzt besser also vorher.

Luftbild der Stadt Riga.

Im Exil, wo die Kiefernwälder nicht weit sind: Viele Russen leben heute in Riga Foto: imago

Dass das Leben derjenigen Russ*innen, die nach Kriegsbeginn das Land verlassen haben, nicht leicht ist, erzählen alle. Sie selber, die Medien, Op­po­si­ti­ons­po­li­ti­ke­r*in­nen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Exil.

Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.

Ob es nun um Probleme mit Papieren und Dokumenten, Diskriminierung oder das sogenannte „Canceln der russischen Kultur“ geht, oder ob EU-Politiker*innen damit drohen, Rus­s*in­nen bei der Einreise nach Europa die Autos wegzunehmen. Oder um all die anderen Probleme der erzwungenen Emigration. Aber dass der Krieg das Leben vieler Emi­gran­t*in­nen verbessert hat, sagt niemand. Dabei gibt es solche Menschen. Nur reden sie normalerweise nicht darüber.

Im Mai 2023 hat der Journalist Jan Schenkman, der jetzt im armenischen Jerewan lebt, auf seinem Facebook-Account etwas gepostet, das einen Skandal auslöste. „Ich verdiene jetzt besser, lebe in einer schönen Wohnung, besser, als ich in Moskau gelebt habe. Alle respektieren und achten mich, das war in Moskau nicht der Fall. Manchmal werde ich sogar auf der Straße erkannt. Jeden Tag passiert irgendetwas Gutes, neue Projekte, Interviews, interessante Begegnungen. Insgesamt geht es mir einfach besser. Ich bin ruhiger geworden, besser, selbstbewusster, ich lächele häufiger. Und das alles, weil Krieg ist“. Das ist nur ein Teil seines Posts.

Mehr Inklusion und ein barrierefreies Umfeld

Und viele meiner Bekannten könnten diese Worte unterschreiben – aber sie haben ihn verurteilt. Denn laut zu sagen, dass das eigene Leben im Exil nicht schlechter ist als früher, sondern sogar davon zu sprechen, dass es sich verbessert hat – das ist der Gipfel des Zynismus und der Gefühllosigkeit vor dem Hintergrund der Tragödien, die sich jeden Tag in der Ukraine ereignen.

Eine Bekannte von mir, die eine Behinderung hat, ist nach Berlin gezogen. Und als wir dort zusammen in einem Café saßen, erzählte sie mir begeistert, dass sie in Deutschland besser medizinisch versorgt werde als in Russland.

Ein barrierefreies Umfeld und Inklusion sind dort schon weiter verbreitet, und die dortige Einstellung zu Menschen mit körperlichen Behinderungen hat sie einfach begeistert. Sie sagte, zum ersten Mal in ihrem Leben fühle sie sich als freier und schöner Mensch.

Steile Karriere, keine Angst mehr vor Zensur

Ein anderer Freund von mir ist Journalist, sehr jung und begabt. Im März 2022 ist er nach Litauen gezogen, er bekam eine Unterstützung von einer europäischen Stiftung, hat schnell einen Job gefunden, erst bei einem unabhängigen Exil-Medium, dann bei einem anderen Medienunternehmen.

Auf der Karriereleiter geht es für ihn steil bergauf, und er verdient mittlerweile so viel Geld, wie er es sich in Russland nicht hätte träumen lassen.

Und dazu kommt, dass er auch nicht länger von irgendeiner Zensur eingeschränkt wird. Er kann ruhig schlafen und muss keine Angst davor haben, dass russische Sicherheitskräfte im Morgengrauen in seine Wohnung eindringen könnten, um ihn ins Gefängnis zu stecken, dafür, dass er seine Arbeit gemacht hat.

Neue Freunde, Sicherheit – und das Meer ist ganz nah

Ich denke in diesem Zusammenhang auch oft an mich selber. Ich kann jetzt nicht sagen, dass mein Leben in Riga besser geworden ist als das, was ich in Moskau hatte. Aber es hat sich auch nicht verschlechtert: Hier wie dort miete ich eine normale Wohnung und leide keinen Hunger. Riga ist eine schöne und angenehme Stadt, Meer und Kiefernwälder sind nicht weit. Auch meine Arbeit habe ich behalten. Denn dank der Coronapandemie, trotz all der damit verbundenen Schrecken, ist Remote-Arbeit normal geworden.

Ja, ich kann meine Angehörigen nicht sehen, aber wir sind in Verbindung. Ich kann einen Teil meiner Freun­d*in­nen nicht sehen, aber hier habe ich neue gefunden. Ja, es ist, als ob ich kein Zuhause mehr hätte und hier ein Niemand bin – aber paradoxerweise fühle ich mich sicherer. Ich werde mein inneres Entsetzen darüber, dass die Dinge nicht so gelaufen sind, wie ich es wollte, für mich behalten. Träume ich davon, dass der Krieg endet und ich nach Moskau zurückkehren kann? Selbstverständlich. Wird mein Leben dort besser? Nicht unbedingt.

Es ist ein kompliziertes Thema. Aber das Leben ist auch eine komplizierte Angelegenheit. Mit dieser Komplexität klarzukommen, ist keine leichte Aufgabe. Aber man muss sich ihr stellen.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.

Ein Band mit den Texten erschien bei edition.fotoTAPETA

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist Chef-Redakteurin beim Portal „Takie dela“ (Russland) und Autorin der Bücher „So sprechen wir. Verletzende Wörte und wie man sie vermeidet“ und „Poetik des Feminismus“ Seit März 2022 lebt sie in Riga (Lettland).

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

Diese Kolumne ist nur möglich dank Ihrer finanziellen Hilfe. Spenden Sie der taz Panter Stiftung und sorgen Sie damit für unabhängige Berichterstattung von Jour­na­lis­t:in­nen vor Ort.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.