Leipziger Buchpreis an Maria Stepanova: Die Stimme des anderen Russlands

Nach Corona findet die Leipziger Buchmesse wieder statt. Die russische Schriftstellerin Maria Stepanova erhält den Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

Maria Stepanova vor grünem Hintergrund

Mit dem jetzigen russischen Krieg rücke die Vergangenheit „katastrophal nah an uns heran“ Foto: Eniric Fontcuberta/EPA

In Russland gab es nie eine Zivilgesellschaft. Angesichts der Thesen von Karl Marx war das umso verheerender: Für den scharf analytischen Wirtschafts- und Sozialtheoretiker war erst eine entwickelte bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Individualisierung und kapitalistischen Dynamik die Voraussetzung dafür, ein emanzipatorisches sozialistisches System konzipieren zu können.

Der gesamte russische Raum hingegen stand seit dem Mittelalter, von Iwan dem Schrecklichen über Stalin bis Putin, im Bann der Tyrannei. Das wirkte sich auch auf den Bereich aus, der am ehesten die Leerstelle ausfüllen könnte: die Literatur. Es fällt auf, dass es bei vielen russischen Schriftstellern, die als Ersatz für mangelnde gesellschaftliche Möglichkeiten ungebändigte Sehnsüchte und Phantasmagorien freisetzten, immer auch einen Grundton von Unabänderlichkeit und Schicksal gibt.

Wenn die Jury des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung angesichts der aktuellen politischen Situation für dieses Jahr nach einer Stimme des „nichtimperialen Russlands“ suchte, war dies vielleicht schwieriger, als man zunächst meinen möchte. Denn in der großen russischen Literatur, von Puschkin über Tolstoi bis hin sogar zu Joseph Brodsky, ist die Vorstellung eines mythischen Über-Russland immer präsent.

Das russische Imperium

Ukrainische Intellektuelle versäumen in diesen Tagen auch nicht, auf wiederkehrende russisch-nationalistische Behauptungen hinzuweisen, etwa auf die verächtliche Erwähnung der Ukrai­ner als angebliche „Kleinrussen“. Das russische Imperium existiert meist in aller Selbstverständlichkeit, ohne jegliche Infragestellung. Und selbst noch nach Beginn des russischen Angriffskriegs äußerten kritische, exilierte russische Stimmen sofort Bedauern für die jungen Russen, diese Generation täte ihnen jetzt vor allem leid. Das ist bezeichnend und mehr als eine bloß spontane Reaktion.

Den Preis an die Moskauerin Maria Stepanova zur Eröffnung der Buchmesse Leipzig 2023 zu verleihen, ist eine mutige Entscheidung. Vor allem in der Ukraine dürfte sie oft auf grundsätzliche Ablehnung stoßen. Dennoch ist sie absolut zu begrüßen. Sie rückt eine Schriftstellerin in den Mittelpunkt, die zeigt, dass es auch ein anderes Russland gibt, ein ziviles Russland – das man als Bündnispartner dringend braucht.

Es geht nicht nur darum, gegen Putin zu sein, sondern auch um die Dekonstruktion jenes übermächtigen Russlandbilds, das die unmittelbaren Nachbarn dieses Landes wie naturgemäß als Vasallen begreift und die das über Jahrhunderte hinweg auch zu akzeptieren gewohnt waren,. Die Entscheidung für die 1972 in Moskau geborene Maria Stepanova ist dabei in erster Linie gar keine politische, sondern eine literarische. Geehrt werden mit ihr die Möglichkeiten von Literatur, die weit über tagespolitische Diskurse hinausreichen können.

Maria Stepanova hat mit ihrem großen international wahrgenommenen Buch „Nach dem Gedächtnis“ (im Original 2017 erschienen) einen Gegenwartsroman geschrieben, der auf der Höhe der Zeit ist, und zwar nicht nur der russischen. „Nach dem Gedächtnis“ ist ein doppeldeutiger Titel. Man kann ihn funktional begreifen: Es gibt für den Gegenstand des Buchs keine Archive und schriftlichen Quellen, alles kann nur „nach dem Gedächtnis“ aufgrund mündlicher Überlieferung aufgeschrieben werden.

Es gibt aber auch eine zeitliche Dimension: Im offiziellen Russland fehlt das Gedächtnis für geschichtliche Verwerfungen. Woran Stepanova erinnert, ist im gegenwärtigen Russland ein Tabu: die Verfolgung von Minderheiten, der Hungertod von Millionen Ukrainern unter Stalin, dessen massenhafte Ermordung Andersdenkender.

Stepanova geht den Spuren ihrer Familie im 20. Jahrhundert nach, also auch allgemein dem russisch-jüdischen Schicksal. Das ist ein subversiver Akt, es ist eine Auflehnung gegen die von der Macht aufoktroyierte Grundhaltung: „Meine Großmütter und Großväter hatten einen beträchtlichen Teil ihrer Energie darauf verwendet, unsichtbar zu bleiben.“

Der Roman ist in einer erkennbar zeitgenössischen, auf vielfältige Bezüge setzenden Montage- und Assoziationstechnik geschrieben. Sie verrät, dass die Autorin neben ihren erzählerischen und essayistischen Texten auch viele Lyrikbände veröffentlicht hat.

Jetzt ist auf Deutsch ihr 2020/21 ­geschriebenes „Winterpoem“ erschienen, das zweisprachig weniger als 100 Seiten umfasst, dafür aber in nahezu jeder Zeile mehrere historische und literarische Schichten freilegt. „Winter“ ist zwar ein klassisches russisches Motiv, Stepanova versetzt es aber quasi organisch in die zeitgenössische Unmittelbarkeit.

Den Preis an Maria Stepanova zu verleihen, ist eine mutige Entscheidung

„Die Schlagstöcke der Polizisten“

Der Auslöser war die Coronapandemie, die das Wesen des Staats spürbar zu symbolisieren schien. Nach ersten klirrenden, ungewohnten Winterversen und überzeitlich wirkenden Märchenanrufungen tauchen plötzlich konkrete Sendboten dessen auf, was bis ins Innerste widerhallt: „In der Winterluft die Schlagstöcke der Polizisten“.

In erzählerisch gebrochene Momente, die den Vorgang des Schreibens selbst in vielfach sich überlagernden Bildern infrage stellen und bekräftigen, schiebt sich einige Seiten später der Winter, „als bräuchte er Zahlen für ein Polizeiprotokoll“. Politisches und Existenzielles werden in frappierender Form verdichtet. Man kann es keineswegs sofort in eine direkte „Verständlichkeit“ übersetzen, aber die Verse bilden einen Schutzraum, der eigene Energien freisetzt.

Maria Stepanova: „Winterpoem 20/21“. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 117 Seiten, 22 Euro

Dieses „Winterpoem“ wurde ein Jahr vor dem russischen Krieg gegen die Ukrai­ne geschrieben. Doch unter den neuen Rahmenbedingungen zeigt sich seine Wahrheit umso deutlicher. Der Winter, der hier zum Thema wird, hat keinen Anfang und kein Ende. Es ist ein immerwährender Winter, der viel mehr umfasst als nur eine Jahreszeit.

Die Dichterin versammelt wie zum Beweis dafür verschiedene Stimmen. Um die Gegenwart zu durchdringen, zitiert sie literarische Vorgänger. Sie greift aus bis zu den Geschichten des Barons von Münchhausen, aber verwandelt sich auch Szenen bei Hans Christian Andersen oder E.T.A. Hoffmann an, flicht einige Ornamente klassischer chinesischer Schriften mit ein.

Bezug auf Ovid

Vor allem aber bezieht sich Maria Stepanova auf den römischen Dichter Ovid, der als Exilierter in einer Strafkolonie am Schwarzen Meer lebte. Diese spektakuläre Verbindung westlicher Antike mit einem genuin russisch-geografischen Komplex hat bereits einige ihrer Vorgänger umgetrieben. Vor allem den russisch-jüdischen Dichter Ossip Mandelstam, auf den sie sich häufiger bezieht. Er umschrieb seine Wahrnehmung des Westens mit einer „Sehnsucht nach Weltliteratur“. Und genau dies wird bei Maria Stepanova ungemein aktuell.

Sehr kristallin und erhellend sind ihre poetologischen Bemerkungen im kurzen Gespräch mit ihrer beeindruckend sprachsensiblen Übersetzerin Olga Radetzkaja, das am Schluss des Bands abgedruckt ist. Mit dem jetzigen russischen Krieg, so sagt Stepanova hier, rücke die Vergangenheit „katastrophal nah an uns heran“ – „eine nur zu bekannte Vergangenheit, die versucht, die Gegenwart unter sich zu begraben“.

Der Leipziger Buchpreis zur Euro­päischen Verständigung wird seit 1994 jährlich vergeben und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird zur Eröffnung der Leipziger BuchmessE am Abend des 26. April 2023 im Gewandhaus an Maria Stepanova verliehen.

Der Winter in diesem hochkonzen­trier­ten Poem steht dafür, dass alle Russen jetzt in einer „zäh gewordenen historischen Zeit feststecken und erst langsam, dann immer schneller rückwärts rutschen, zurück in die Vergangenheit, in archaische, statische Schichten, wo jedes Wort in der Luft gefriert“. In der starken sinnlichen Prägnanz, die dieses „Winterpoem“ durchzieht, liegt aber auch die Gegenbewegung verborgen – mit Worten, die all dies genau festhalten und durch ihre Freiräume etwas anderes, vielleicht Zukünftiges aufrufen.

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