Linke in der Ukraine zum Nahost-Krieg: Ein kontroverser Aufruf

Palästinenser und Ukrainer seien in ähnlichen Situationen, schreiben 352 Linke. Sie fordern Solidarität und reagieren mit Unverständnis auf Kritik.

Raketen über den zerstörten Häusern von Gaza

Gaza-City am 9. November Foto: Mohammed Al-Masri/Reuters

KYJIW taz | In einem „Aufruf zur Solidarität mit dem palästinensischen Volk“ fordern 352 Ukrainer, vorwiegend aus dem grünlinken Spektrum, Solidarität mit Palästina und eine andere Palästina-Politik der Ukraine. Unterzeichnet haben Gewerkschafter, Publizisten und Wissenschaftler. Die Situation der Ukraine und Palästinas sei wegen der Besatzungen vergleichbar.

„Wir sind solidarisch mit dem palästinensischen Volk, das seit 75 Jahren unter israelischer Militärbesatzung steht, unter Bedingungen von Teilung, kolonialer Siedlergewalt und ethnischer Säuberung, und das sich dagegen wehrt.“

Gerade weil man sich für Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit einsetze, verurteile man Angriffe auf Zivilisten aufs Schärfste, „sowohl auf Israelis, die von der Hamas angegriffen werden, als auch auf Palästinenser, die von den israelischen Besatzungstruppen und bewaffneten Siedlern angegriffen werden“.

Die vorsätzlichen Angriffe auf Zivilisten seien ein Kriegsverbrechen, würden aber „nicht die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes und die Gleichsetzung aller Menschen im Gazastreifen mit der Hamas“ rechtfertigen.

Recht auf Selbstbestimmung und Widerstand

Viele nutzten nun die Gewalt der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung vom 7. Oktober, um den palästinensischen Widerstand als Ganzes zu dämonisieren, heißt es weiter. Man müsse die reaktionäre islamistische Organisation Hamas im breiteren historischen Kontext der jahrzehntelangen israelischen Übergriffe auf palästinensisches Land sehen, die es schon lange vor der Hamas-Gründung in den späten 1980er Jahren gegeben habe.

1948 seien mehr als 700.000 Palästinenser brutal vertrieben worden. Und diese „koloniale Expansion“ habe Israel nie gestoppt. Seit dem 7. Oktober seien im Gazastreifen mehr als 8.500 Menschen getötet worden.

Wie ein roter Faden zieht sich die These durch den Text, die Palästinenser seien in einer der Ukraine vergleichbaren Situation. „Die Palästinenser haben das Recht auf Selbstbestimmung und Widerstand gegen die israelische Besatzung, so wie auch die Ukrainer das Recht haben, sich der russischen Invasion zu widersetzen.“

Verständnis für Israel

Doch es gibt auch Kritik an diesem Aufruf. So nennt Pascha Wezdenetsky, Aktivist beim European Youth Parliament for Water, die UnterzeichnerInnen auf seiner Facebook-Seite „nützliche Idioten, die man besser mal nach Gaza schicken sollte“. Dort würde sie „das palästinensische Volk“ entsprechend einnorden.

Auch Andri Krawtschuk vom „LGBT-Menschenrechtszentrum unsere Welt“ kritisiert gegenüber der taz den Appell. „In dem Aufruf heißt es, man sei am 7. Oktober ‚Zeuge der Gewalt‘ der Hamas geworden. Dies nur ‚Gewalt‘ zu nennen, ist zu wenig. Man wollte einen Genozid begehen. Wir in der Ukraine sagen: ‚Wenn Russland aufhört zu kämpfen, gibt es keinen Krieg. Aber wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, gibt es keine Ukraine.‘ Auch Israel, ein liberaler und demokratischer Staat, kämpft um sein Überleben. Es hatte keine andere Wahl, als solche Maßnahmen gegen die Hamas zu ergreifen.“

Auf die Frage, wie Israel denn sonst auf das Massaker der Hamas hätte reagieren sollen, sagt der Historiker und Vertreter der linken „Sozialen Bewegung“, Taras Bilous, Mitunterzeichner des Aufrufs, gegenüber der taz: „Israel hätte auch ausschließlich die Hamas-Führer ins Visier nehmen können, statt Tausende Zivilisten zu töten. Das Argument, es gebe keine andere Möglichkeit, die Hamas zu vernichten, ist falsch, denn selbst der Tod der vielen Zivilisten hat bisher nicht zur Zerschlagung der Hamas geführt. Und Israel wird das wohl auch nicht gelingen.“

Arabische Nachbarn nicht alle israelfeindlich

Vielmehr befürchtet Bilous, der sich im Februar 2022 sofort als Freiwilliger bei der ukrainischen Armee gemeldet hatte, dass sich junge Palästinenser jetzt vermehrt dem bewaffneten Kampf gegen die israelische Besatzung anschließen könnten. Auch der Einwand, man hätte doch das Existenzrecht Israels in dem Aufruf erwähnen müssen, lässt er nicht gelten. Man leugne dieses Existenzrecht nicht, müsse es in einem Solidaritätsaufruf für Palästina aber nicht explizit erwähnen.

Falsch sei auch, so Bilous, so zu tun, als sei Israel von feindlichen arabischen Staaten umgeben. „Ägypten und Jordanien haben bereits in den 1970er Jahren Friedensgespräche mit Israel aufgenommen. Der Libanon ist von internen Konflikten zerrissen, Syrien liegt in Trümmern, und die Arabischen Emirate haben gerade mit Israel das Abraham-Abkommen unterzeichnet.“

Im Prinzip werde Israel seit fünfzig Jahren nur von Palästinensern angegriffen, die es zu Flüchtlingen gemacht habe, sowie von der Hisbollah, die als Reaktion auf die israelische Besetzung des Libanon entstanden sei. „Wenn ein Staat von denjenigen angegriffen wird, deren Gebiete er besetzt hat, sollte klar sein, dass mit dem Mantra des ‚Rechts auf Verteidigung‘ etwas nicht stimmt“, so Bilous.

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