Lutz Seiler erhält Georg-Büchner-Preis: Poesie ist Widerstand

Der Lyriker und Romancier Lutz Seiler erhält den Georg-Büchner-Preis. Nun wird vor allem seine hervorragende Dichtkunst ausgezeichnet.

Lutz Seiler

Lutz Seiler Foto: Heike Steinweg

Am Anfang dieses literarischen Werks steht die Lyrik. So beginnt die Begründung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Lutz Seiler in diesem Jahr mit dem Georg-Büchner-Preis auszuzeichnen, auch mit einem Verweis auf dessen lyrisches Werk. Gewürdigt werde ein „Autor, der mit klangvollen Gedichtbänden begann, von dort zum Erzählen fand, stets aber ein so klarer wie rätselhafter, dunkel leuchtender Lyriker bleibt, zuletzt mit ‚schrift für blinde riesen‘.“

Seilers erste Gedichtbände aus den 1990er Jahren, deren Musikalität und Motivkunst hervorstachen, hießen „berührt / geführt“ sowie „pech & blende“. Helmut Böttiger wies in einer Rezension etwa auf Seilers subtile Transformation von biografischen Erfahrungen in eine Dichtung von „archaischer Wucht“ hin. Mit dieser Wucht konnte es der Schriftsteller aber manchmal auch übertreiben, etwa in seinen mit zahlreichen Preisen bedachten Romanen „Kruso“ und „Stern 111“.

Vergangenes scheint im Gegenwärtigen auf

Dann aber erschien 2021 jene „schrift für blinde riesen“, die vermutlich den Ausschlag gab für die Entscheidung, Seilers literarisches Schaffen mit der wichtigsten literarischen Auszeichnung im deutschsprachigen Raum zu würdigen. Dem 1963 im thüringischen Gera geborenen Schriftsteller gelingen in dem Gedichtband jenseits der für ihn typischen Rätselpoeme nämlich sehr anschauliche Sprachkunstwerke, die das vermeintlich Banale in kunstvolle Bildsprache verwandeln und in denen auf eher subtile Weise längst Vergangenes im Gegenwärtigen aufscheint.

Die Pandemie ist dabei genauso Thema wie die Aufklärung; oft geht es ums Lernen und literarische Schreiben, um den Menschen in der Natur und seine Verstrickungen in familiären und gesellschaftlichen Beziehungen.

So erinnert etwa das kleine Gedicht, das die Datumsangabe „29. März 2020“ als Titel trägt, an einen völlig veränderten, in neuen Routinen erstarrten Alltag schon eine Woche nach Beginn des ersten Lockdowns: „erst den teller fertig machen dann / das küchenfenster fest verschließen & hernach / den topf abgießen – / dampf dampf dampf / dampf der welt & untergang“.

Die Szene handelt vermutlich vom Nudelkochen, vom dampfenden Wasser im Spülbecken, das im Grunde nicht der Rede wert wäre, wenn nicht das feste Verschließen des Küchenfensters erwähnt würde, der private Schutzraum, in dem gleichwohl das Gefühl nicht schwindet, jene kleinsten Tröpfchen, die berüchtigten Aerosole, können nicht nur harmlos wie im Kochwasserdampf daherkommen, sondern eben auch als tödlicher Virennebel den Untergang bringen. An diesem Beispiel lässt sich gut ablesen, wie der Dichter arbeitet, wie er dem Grotesken im Alltag nachspürt, wie er die im wahrsten Sinne des Wortes virulenten Themen der Zeit in wenigen Motivkombinationen einfängt.

Sauerampfer im Knochenpark

Nicht immer lassen sich die Analogien und Verweise in seiner Lyrik leicht nachvollziehen. Manchmal müssen Seilers Zeilen mehrfach gelesen werden, zuweilen hilft ein Anmerkungsapparat, der dann über seltsame Orte in Gera aufklärt, zum Beispiel über den sogenannten Knochenpark, der einst Friedhof war und später geheime Ecken für Jugendliche bot: „gleich nach der schule, eigentlich / an jedem stillen nachmittag / waren wir im knochenpark. klee / & sauerampfer kauten wir, ein / meinungsdeutsch der luft & saugten / lang am mark der süßen spitzen. Ich / hatte noch nicht aufgeraucht / & küsste c. – es war schon spät.“

Das Knochenmotiv hat Lutz Seiler schon im ersten Gedicht des Bandes eingeführt: Mit „morgenrot & knochenaufgänge“ sind drei Strophen überschrieben, die Stanley Kubricks berühmten Einstieg in seinen Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ aufgreifen, ohne die Szene explizit zu erwähnen. Vom Affenmenschen ist die Rede, der im hohen Savannengras nichts sehen kann, und dann, mit dem Griff zum Knochen eines toten Tiers, einen wichtigen Entwicklungsschritt macht. Dass die mit dem Werkzeug verlängerte Hand den Artgenossen erst Gewalt antut, um Jahrtausende später zur „schreibhand“ zu werden, deutet Seiler nur mit einem „hörbaren knacken“ an.

Die Kultur ist in der Welt, der zivilisatorische Fortschritt nicht mehr aufzuhalten, und so handeln die folgenden Gedichte auch vom Lernen und Interpretieren, vom Dichten und der instrumentellen Vernunft, die unter widrigen Bedingungen zurückschlägt in Barbarei oder die einfach sympathisch verwildert auftritt: „langsam, aber sicher“ war das lieblingswort / unserers lehrers in astronomie. sein name / war klotz, herr klotz. ihm / wuchsen die haare wie kleine / bohrer aus den ohren, ein / spiral-phänomen, das jedes weltall-wissen / in den schatten stellte“.

Naturmotive und Erinnerungen

Demütig ist der Dichter gegenüber der Sprache, ohne sich irgendwelchen Regeln zu unterwerfen. Vielleicht hat sich Seiler auch deshalb für Kleinschreibung und freie Verwendung der Satzzeichen entschieden. Dass nach Gedichten, die Prometheus-Bilder durchspielen und Themen der Aufklärung behandeln, die schöne, beruhigende und beschädigte Natur im Mittelpunkt steht, erscheint nur folgerichtig. Beim Waldgang spürt das lyrische Ich eine „fein-verwurzelung der augen“, und zwar „am rostboden der lichtung“.

Naturmotive sind bei Seiler in allen Gedichtbänden eng verflochten mit persönlichen Erinnerungen an Familie und Kindheit, an die Zeit im Grundwehrdienst der DRR, an seine Erfahrungen in einer Maurerlehre, an Erlebnisse im Prenzlauer Berg in Nachwende-Jahren, an ersten literarischen Versuchen und dem intensiven Glück flüchtiger Liebe. Wer Seilers Romane „Kruso“ und „Stern 111“ gelesen hat, wird in seinen Gedichten durchaus bekannte Motive entdecken. Auch das Verfahren, historische und aktuelle Szenen ineinander fließen zu lassen, wendet der Autor in seiner Prosa und Poesie gleichermaßen an.

Er schrieb den großen Wenderoman

Von der Prosa Lutz Seilers wird oft gesagt, sie beeindrucke durch den „lyrischen Tonfall“. Doch es gab vereinzelt auch Kritik, dass seine überambitionierten Sprachspiele und der oftmals hohe Ton die Romane überfrachten. In „Kruso“ erzählt Seiler von zwei Männern, die sich im Wendejahr 1989 auf der Ostsee-Insel Hiddensee zurückziehen.

Mit ihren Landsleuten, die aus der DDR fliehen, haben Edgar Bendler und Alexander Krusowitsch nur wenig zu tun. Denn die beiden Aussteiger wollen eigene Vorstellungen einer inneren Freiheit realisieren, gründen eine Art Geistesenklave. „Poesie war Widerstand“, heißt es in „Kruso“, und eine solche Beschwörungsformel kam gut an bei der Literaturkritik, die endlich den großen Wenderoman lesen durfte, den sie jahrelang gefordert hatte.

Dreckiger Sex zwischendurch

In „Stern 111“ verarbeitet Seiler ebenfalls eigene Erfahrungen der Wendezeit. Der Text möchte viel auf einmal sein: Roadtrip und Berlin-Roman, Milieustudie der Ostberliner Szene, Familienroman und Nachwende-Panorama. Es geht um Einsamkeit und Fremdheit, um Hoffnungen auf ein erfülltes Leben, um die reine Liebe und auch den etwas dreckigen Sex zwischendurch. Seiler nutzt sein Alter Ego Carl, um den eigenen Weg zum Dichter zu erkunden, um zurückzuschauen auf Stimmungen und Motive, die ihn als Mensch und Autor bis heute prägen.

Es entsteht eine Mischung aus lyrischer Privatmythologie und politischem Märchen. Ständig krabbelt ein Kerbtier über die Seite, schließlich spricht noch eine Ziege. Alles ist aufgeladen mit Bedeutung, der Roman ist gespickt mit mal versteckten, manchmal auch offensichtlichen und kalauernden Bezügen zur Literaturgeschichte. „Was hast du all die Jahre gemacht?“ fragt ein Mann auf einer Party. Dann die Antwort des Marcel-Proust Lesers: „Ich bin früh schlafen gegangen.“

Jetzt aber wird nicht mehr geschlafen, jetzt wird für eine bessere Welt gekämpft, zumindest der Freiraum genutzt, der die scheinbar regellose Übergangszeit bot. Carls Fähigkeiten als Maurer werden gebraucht, zum Schreiben kommt der Dichter kaum, aber das macht nichts, denn das Leben selbst fühlt sie wie Literatur an.

Reduktion und Konzentration

„Stern 111“ erhielt 2020 den Preis der Leipziger Buchmesse, nachdem „Kruso“ 2014 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Seilers Lyrik steht bis heute erstaunlicherweise im Schatten der euphorischen Rezeption seiner Prosa. Dieses Missverhältnis wird durch den Büchner-Preis zumindest leicht korrigiert. In der Lyrik, die von der Darmstädter Akademie mit Recht hervorgehoben wird, ist dieser Schriftsteller ein Erzähler, der sich auf Reduktion und Konzentration versteht.

Allein der Titel „schrift für blinde riesen“ ist ein wundersam präzises Bildkunstwerk, das sich erst im Gedicht „heimwärts, im regen“ auflöst: Gemeint sind Kieselsteine auf dem Boden, die, vom Wasser gewaschen und in Konstellationen gebracht, wie Schriftzeichen wirken, wie Braille für blinde Riesen. Der Mensch, von seiner Größe und vermeintlichem Allwissen berauscht, wird hier nebenbei zum Zwerg geschrumpft, der nicht alle Zusammenhänge begreift.

Alles ist weit

Wie die Knochen tauchen die blinden Riesen immer wieder in dem Gedichtband auf, der die Geschichte der Lyrik manchmal streift, Annette von Droste-Hülshoff erwähnt, das Dichten einmal als „tote Versfabrik“ beschreibt und die Frage stellt: „was ist noch lesbar“?

Manche Strophe möchte man Reisenden auf den Weg geben, die sich von den Zumutungen des Alltags befreien wollen. Doch auch in der vermeintlich leicht zu lesenden Strophe lauert der unerwartete Zeilensprung, der an die altbekannten Verunsicherungen erinnert. „weil jetzt nichts drängt, nichts / droht: alles ist weit, zum sehen frei / gegeben. / einmal im leben.“

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