Männlichkeitsforscher Budde über Amok-Antriebe: "Die Möglichkeit der Anerkennung"

Sind Jungen gewaltbereiter als Mädchen? Haben Amokläufe zugenommen? Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Budde über Männlichkeitsklischees und die Notwendigkeit von Schulpsychologen

"Wer ist männlich, wer gehört dazu und wer nicht?" Wichtige Fragen in der Schule. Bild: ap

taz: Herr Budde, anlässlich des vermeintlich verhinderten Amoklaufes an dem Georg-Büchner-Gymnasium in Köln wurde kritisiert, dass kein Psychologe bei dem Gespräch zwischen Robert B., dem Direktor und der Polizei zugegen war. Wie schätzen Sie das ein?

Jürgen Budde: Ich finde es erschreckend, dass ein Junge sich gerade mal zwanzig Minuten nach dem Gespräch das Leben nimmt. Und sich dafür niemand verantwortlich zu fühlen scheint. Ich frage mich, wie das Gespräch gelaufen ist. Andererseits gehört es häufig zur Inszenierung von Amokläufern dazu, dass sie sich am Ende auch das Leben nehmen wollen.

Wie ist die Situation generell von Psychologen an Schulen - oder genauer gesagt an Gymnasien?

Bei Amokläufen kann man sich in der Tat auf Gymnasien beschränken. Denn entgegen der Annahme, dass vor allem Hauptschüler gewalttätig sind, finden Amokläufe fast immer an Gymnasien beziehungsweise Highschools statt.

Können Sie sich das erklären?

An Gymnasien sind körperliche Gewalthandlungen häufig tabuisierter als in anderen Milieus. Das mag dazu beitragen, dass einzelne Schüler nach radikaleren Formen suchen, ihre Aggression auszudrücken. Angesichts des höheren Leistungsdrucks, stellt sich auch das Problem der Vereinzelung von überforderten Jungen verschärft.

Wie sieht denn die Praxis von Psychologen an Gymnasien aus?

Bescheiden. Es gibt an deutschen Gymnasien zu wenig Psychologen. Das ist ein sehr unterbesetztes Feld.

Glauben Sie, dass die Amokläufe daran etwas ändern werden?

Nach dem Massaker in Emstetten wurden in Nordrhein-Westfalen neue Psychologen eingestellt. Aber das ist nicht die Regel. Wir müssen uns auch davor hüten zu glauben, dass sich solche Gewalteskalationen durch Präventionen oder noch so viele Psychologen vollständig verhindern ließen.

Welche Rolle spielt heute das Phantasma Amokläufer bei suizidgefährdeten Jungen?

Darüber kann man immer nur spekulieren. Der Amoklauf ist für Jungen, die sich in ihrem realen Leben nicht besonders mächtig fühlen, eine Möglichkeit, Machterfahrungen zu sammeln. Und Anerkennung zu bekommen. Das ist ein Bedürfnis, das bei Jungen stark ausgeprägt ist.

Ausgeprägter als bei Mädchen?

Anders ausgeprägt. Wir müssen vorsichtig sein. Es macht keinen Sinn zu sagen: Mädchen sind so, Jungen so. Unabhängig aber von solchen pauschalisierenden Zuschreibungen, ist für viele Jungen die Suche nach Anerkennung ein großes Thema. In diesem Kontext ist die Figur des Amokläufers eine machtvolle Figur.

Was ist das Spezifische bei den Jungens?

Die Frage: Wer ist männlich, wer gehört dazu und wer nicht, spielt bei ihnen eine sehr große Rolle. In dieser Aushandlung liegt bereits eine große soziale Gewalt. Und einzelne Ausgegrenzte suchen sich dann eine besonders brutale Form, ihrer Demütigung Ausdruck zu verleihen. Aber man darf auch nicht vergessen, dass viele Jungen Gewalt anwenden, gerade weil sie sich ihrer Männlichkeit sehr sicher sind. Also aus einer souveränen Position heraus handeln. Bei Rechtsradikalen oder Hooligans ist das der Fall. Hier kann man sicher nicht von einer Krise der Männlichkeit sprechen.

Sind Jungen heute gewalttätiger als früher - oder ist das ein Vorurteil?

In dieser Diskussion macht man sich häufig die Exzesse, die männliche Gewalt im Dritten Reich feierte, nicht klar. Auch die Behauptung, dass früher bei Schulschlägereien Schluss war, sobald einer auf dem Boden lag, halte ich für eine verklärte Sichtweise. Desgleich lässt sich auch aus Gewaltstatistiken nicht unbedingt ableiten, dass die Gewalt zugenommen hätte. Zugenommen hat vor allem die Sensibilität für dieses Thema. Was ja ein Fortschritt ist.

Nehmen denn Amokläufe zu?

Das scheint mir so zu sein. Aber bislang fehlen Studien, die dies belegen. Einerseits befördern die Medienberichte sicher so genannte Trittbrettfahrer. Andererseits führt die Berichtersattung auch zu einer größeren Sensibilisierung. Köln etwa zeigt, dass eine Schule heute schneller reagiert, wenn es einen Verdacht auf einen Amoklauf gibt. Trotzdem haben die Medien eine große Verantwortung. Und ich bin mir nicht sicher, ob sie und die Polizei diese im Falle von Robert B. ausreichend wahrgenommen haben.

Wie würden Sie das Verhältnis von Männlichkeit und Gewalt beschreiben?

Gewalt einzusetzen, ist bis heute eine Möglichkeit, die vor allem Jungen vorbehalten ist. Das heißt nicht, dass alle Jungen Gewalt anwenden. Überhaupt nicht. Trotzdem ist es für Jungen legitimer als Täter in Gewalthandlungen verstrickt zu sein als für Mädchen. Jungen sind auch viel häufiger Opfer von Gewalttaten als Mädchen. Die Erfahrung von Gewalt ist bis heute ein relativ normaler Bestandteil einer Jungensozialisation. Sie gehört einfach dazu.

Der Leiter des Kriminologischen Institut Niedersachens, Christian Pfeiffer, behauptet: Jungen sind die neuen Verlierer unserer Gesellschaft. Daraus erkläre sich ihre Gewaltbereitschaft.

Ich würde zurückfragen: Wo sind Jungen eigentlich die Verlierer? Und: Was verlieren sie? Geht man die ganzen Bildungsstudien durch, lässt sich mit Sicherheit nur sagen, dass Jungen nicht mehr per se die Gewinner des Bildungssystems sind. Trotzdem schneiden viele ziemlich gut ab. Die Rede von der Krise der Jungen verweist vor allem auf eine Verunsicherung darüber, dass Jungen nicht mehr automatisch das "überlegene" Geschlecht darstellen.

Die Forderung, Jungen in der Schule mehr zu fördern, ist also falsch?

Nein. Es ist sinnvoll Jungen zu fördern - und Mädchen natürlich auch. Vor allem aber sollte man die Kinder als Individuen ernstnehmen und sie nicht nur als Vertreter eines Geschlechts ansehen.

Auch in ihrem Buch "Männlichkeit und gymnasialer Alltag" sagen Sie, dass das Geschlecht nur teilweise als Beschreibungsformel taugt. Dabei kommen sie aus der Jungenforschung.

Wenn ich unterstelle: Jungen sind aufgrund ihres Geschlechts gewalttätig, werde ich all denen nicht gerecht, die überhaupt nicht gewalttätig sind und konfrontiere sie erneut mit klischierten Bildern von Männlichkeit. Die Gefahr dabei ist, dass wir so Stereotypen fortschreiben und nicht auflösen. Unserer Erfahrung nach ist es sehr viel sinnvoller, Geschlecht als analytische Kategorie im Hintergrund mitlaufen zu lassen. Und mehr auf die individuellen Fähigkeiten der einzelnen Kinder zu gucken.

Wie läuft die Kommunikation zwischen den Erziehungswissenschaften, den Schulden und dem Kultusministerium?

Ich glaube, sie wird besser.

Wie schlecht ist die denn?

Schulen und die Forschung funktionieren nach unterschiedlichen Maßstäben. An Schulen fragt man zu Recht: Wie lässt sich etwas in die Praxis umsetzen? Die Wissenschaft aber sagt: Lasst uns erstmal darüber nachdenken, was überhaupt passiert ist. Das Interesse an dem Jungenthema ist an Schulen aber durchaus vorhanden. Und auch die Politik interessiert sich inzwischen für wissenschaftliche Erkenntnisse.

INTERVIEW: INES KAPPERT

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