Medialer Overkill neuer Kategorien: Gefangen im Raster

Seitdem es für jede Lebensentscheidung eine Kategorie gibt, ist es schwer, ein Individuum zu sein. Ein Gespräch unter gerasterten Freund*innen.

Antonia Mercedes Kirschner, Sächsische Blütenkönigin, beißt auf dem Gelände des Sächsischen Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie in einen Apfel.

Sieht unschuldig aus, ist aber keine Privatangelegenheit sondern Clean Eating

„Habt ihr auch manchmal den Eindruck, ihr seid nicht mehr so richtig Mensch, sondern besteht nur noch aus Themen und Wörtern?!“, fragt die Freundin auf der Restaurant-Terrasse.

„So, als stünde über allem, was du tust, eine Headline?“, fragt der Freund.

„Ich weiß, was du meinst!“, sagt die andere Freundin, „ich schmuse mit meiner Katze und denke: Cat Content, so, als würde ich mich digital imaginieren!“

„Ich will wieder einfach nur sein, ohne mich in einen Kontext zu droppen!“

„Jetzt machen wir gerade Fine Dining, oder?“

„Nee, eher casual!“

„Wenn ich zu Hause einen Apfel ess, denk ich: Clean Eating, vegan, es ist zwanghaft!“

„Der Apfel gehört außerdem zum Spektrum der antientzündlichen Ernährung!“

„Wer Zeit hat, das zu denken, ist immerhin in einer guten Life Balance!“

„Auch beim analogen Einkaufen blinkt ständig das Wort ‚Nachhaltigkeit‘ in meinem Kopf wie eine schlechte Leuchtreklame aus den Achtzigern!“

„Ich hatte vor, während und nach meiner Indien-Reise nachhaltige Flugscham und habe alle anderen Ausländer dort hinsichtlich kultureller Aneignung betrachtet, ich habe sie nicht mal negativ bewertet, es ging nur um die zwei Wörter, ich bekam sie nicht mehr aus dem Kopf!“

„Man ist in Wörtern, ich bin Cis, hetero, aber wer bin ich darüber hinaus!?“

„Du bist eben du!“

„Ich bin flexitarisch carnivor, in meiner letzten Beziehung toxisch!“

„Auch beim analogen Einkaufen blinkt ständig das Wort ‚Nachhaltigkeit‘ in meinem Kopf wie eine schlechte Leuchtreklame aus den Achtzigern!“

„Aber du bist eben auch Felix!“

„Felix aus der Generation X, zurecht verlassen von einem Millennial!“

„Namen sind auch nur Wörter, ich will mich wieder fühlen, nicht bloß denken!“

„Wäre das dann das Embrace-Thema!?“

„’ne Weile waren Anglizismen voll gecancelt, jetzt haben sie alles überschwemmt wie so ein Mind-Tsunami!“

„Angst heißt jetzt Anxiety!“

„Gibt aber auch inflationäre deutsche Wörter … Ich nehme mir bewusst das Stück Steak, genieße, tue mir Gutes, schwupps: Selbstwirksamkeit!“

„Und miese Omega-3- und Klima-Bilanz!“

„Ich trinke heute wegen der Achtsamkeit keinen Alkohol und denke: sober, warum denke ich nicht nüchtern?“

„Klingt nach Psycho-Content, sober ist eher so … am Puls der Zeit!“

„Hip urban!“

„Immer musst du noch einen draufsetzen!“

„Mansplainer!“

„Wieso nicht Wichtigtuer oder Chauvi?“

„Was auch immer: Shame mich doch einfach als Felix, und nicht für mein Geschlecht!“

„Für Mansplainer gab es schon immer Safe Spaces: Stammtische!“

„Als ich neulich das Gespräch mit meinem Vater rabiat beendet habe, weil er mir unqualifiziert in meine beruflichen Entscheidungen reingeredet hat, dachte ich mit Scham: Altersdiskriminierung!“

„Hab mein Telefon gestern ’ne Stunde vorm Schlafengehen ausgemacht, dachte: Schlaf­hygiene!“

„Ich ziehe mir den Lippenstift nach, mache einen Schmollmund und denke: Lookismus!“

„Ich antworte ’n Tag nicht auf ’ne Nachricht und denke: Ghosting!“

„Wenn man ghostet, ist man dann eigentlich der Ghost?“

„Nee, man macht die andere Person zum Ghost, oder?“

„Gute Frage, wer ist der Ghost beim Ghosting?“

„Na ja, die Person, die ghostet ist auf jeden Fall ein Arschloch!“

„Word!“

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Jasmin Ramadan ist Schriftstellerin in Hamburg. Ihr neuer Roman Roman „Auf Wiedersehen“ ist im April 2023 im Weissbooks Verlag erschienen. 2020 war sie für den Bachmann-Preis nominiert. In der taz verdichtet sie im Zwei-Wochen-Takt tatsächlich Erlebtes literarisch.

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