Meisterschaft in Neapel: Schön verpackte Täuschung

Am Sonntag endet die Fußballsaison in Italien. Der Meister steht fest: SSC Napoli. Was bedeutet dieser Sieg für die Stadt Neapel und ihre Bevölkerung?

Die Maradonna Tätowierung auf dem Bauch eines Fußballfans mit nacktem Oberkörper wird im Jubel bestaunt

Fans jubeln am 4. Mai in Neapel Foto: Andrew Medichini/ap/dpa

NEAPEL taz | Hubschrauber kreisen am Abend des 4. Mai über dem maroden Stadion Diego Armando Maradona in Neapel. 50.000 Fans verfolgen das Auswärtsspiel ihres SSC Neapel in Udine auf 8 riesigen Leinwänden. Dann übertönt ein Schrei das Knattern der Rotoren. „I campioni dell’Italia siamo noi“, wir sind italienischer Fußballmeister, lautet der erlöste Refrain, sechs Spieltage vor dem Ende der Saison. Zuletzt war Neapel vor 33 Jahren Meister geworden. Trafen dieser und die zuvor von der Mannschaft rund um Diego Maradona gewonnenen Titel auf eine traurige und unruhige Stadt, so wird der jetzige in einem immer weiter ausufernden urbanen Gebilde gefeiert, das tiefgreifende Mutationen erfahren hat.

In der neapolitanischen Tradition ist der 4. Mai der Tag der Zwangsräumungen, auf Italienisch sfratti. Mieter:innen, die mit ihrer Zahlung im Rückstand waren oder deren Mietvertrag schlicht auslief, wurden an diesem Datum auf die Straße gesetzt, seit das 1611 vom spanischen Vizekönig festgelegt worden war. Der 4. Mai war ein Tag der Verwirrung und des Wandels, der individuellen wie kollektiven Veränderung. Die Straßen waren voller improvisierter Karren mit Hausrat, die von Familien auf der Suche nach einem neuen Zuhause durch die Stadt gezogen wurden.

Das Pittoreske ist verschwunden, im Sprachgebrauch der Stadt hat sich das Datum als Tag der sfratti, der erzwungenen Veränderung aber erhalten; und für die proletarischen Schichten hat sich wenig geändert, sie leben weiterhin prekär in jeder Hinsicht. Ein Weg, um diese ständige Unsicherheit zu verkraften, ist die Teilnahme an frenetischen Festen, bei denen sie endlich als Protagonisten historischer Ereignisse auftreten können, eine Art kollektiver Sublimierung des alltäglichen Elends.

Am 4. Mai 2023, um 22.37 Uhr, pfiff der Schiedsrichter in Udine das Spiel ab. Auch ich war in diesem Moment im Stadion Diego Armando Maradona. Unzählige illegale Pyros leiteten die lang ersehnte Partynacht ein. Dieser 4. Mai 2023 wird zweifellos das neue historische Datum sein, an dem die Stadt und ihre Be­woh­ne­r:in­nen ihre größtmögliche Veränderung erlebt haben. Niemand hatte zu Saisonbeginn viel von der neu zusammengewürfelten Mannschaft erwartet. Und dann war sie das stärkste Napoli aller Zeiten geworden, stärker sogar als jenes mythische Team rund um das dadaistische Genie mit der Nummer 10, Maradona.

Opfer einer Camorrafehde

Ein riesiger sportlicher Erfolg also, in der Tat. Ein Sieg vor allem des Vorsitzenden und Eigentümers Aurelio De Laurentiis und seiner unternehmerischen Vision, mit der er immer wieder mit der Realität des neapolitanischen Fanmilieus und der Stadt insgesamt aneinandergeraten ist. Und diese alles in den Schatten stellende Meisterschaftsfeier nun: Ist das die Revanche für jahrhundertelange Vernachlässigung? Oder einfach eine wilde und unpolitische Selbstdarstellung einer Gemeinschaft, die schon immer Opfer von Klischees und Vorurteilen war? Wer weiß. Vielleicht ist es einfach nur eine Party, ein kollektives Besäufnis.

Nach einer außergewöhnlichen Nacht war der Morgen des 5. Mai dann überraschend normal, der Alltag war zurückgekehrt. Die Party war nicht ausgeufert, die Corsos der Autos und Motorräder wurden durch Polizeisperren eingehegt. Das Fest fand in einer Fußgängerzone statt, die sowohl von Familien als auch von Ultragruppen durchquert wurde. Die Menge war der Star des Abends, aber sie war eine zahme Menge.

Obwohl in den Medien von Toten und Verletzten während der Feierlichkeiten die Rede war, gab es in Wirklichkeit einen einzigen Toten: Ein 26-jähriger Mann wurde Opfer einer Camorrafehde, nicht der Exzesse um den Meistertitel. Das macht die Bluttat nicht besser, aber mit der organisierten Kriminalität lebt die Stadt seit Jahrzehnten, der Rummel der Meisterschaftsfeier bot schlicht eine Gelegenheit, alte Rechnungen zu begleichen.

Massentourismus als treibende Kraft

Die Medien aber waren in die Stadt gekommen, um über den speziellen Ausnahmezustand im normalen Ausnahmezustand Neapel zu berichten, sie suchten den Aufruhr, den originellen Zugang, die schmissige Phrase, den folkloristischen Rahmen. Und dabei übersahen sie, dass sie in eine Stadt gekommen waren, die längst ihre Haut gewechselt hat; ein Neapel als soziales Gefüge, das sehr bewusst mit einer neuen wirtschaftlichen Situation umzugehen verstanden hat, mit dem Massentourismus als treibende Kraft.

Eine Touristifizierung, die durch eine unerwartete, aber historisch bedingte Komplizenschaft zwischen der (unproduktiven) Bourgeoisie und dem Lumpenproletariat begünstigt wurde. Diejenigen, die jahrhundertelang als Nichtstuer, als Lazzaroni bezeichnet wurden, sind zu Unternehmern der folkloristischen Gastfreundschaft und des Erlebnistourismus geworden, getragen vom Laisser-faire der nominell linken Gemeinde- und Regionalverwaltungen, die seit mehr als einem Jahrzehnt regieren.

Die Via Emanuele De Deo führt in die berüchtigten spanischen Viertel hinauf. An einer etwas breiteren Stelle befand sich bis vor ein paar Jahren ein Parkplatz. Inzwischen ist er zu einer obligatorischen Etappe auf den Touristenrouten der Stadt geworden. An der Fassade eines eher schäbigen Gebäudes befindet sich ein 1987 gemaltes, etwas unbeholfenes Wandgemälde, das Maradona beim umdribbeln eines Gegners zeigt; eine der zahlreichen Spuren, die die Feierlichkeiten zum ersten und zweiten Scudetto Ende der 1980er Jahre im Stadtbild hinterlassen haben.

Verkauf von Maradona-Kitsch

Einige Monate vor Maradonas Tod im November 2020 tat ein Kunsttischler, der zum Kulturaktivisten avancierte, Mittel auf, um das Wandbild zu restaurieren. Mit Maradonas von vielen Emotionen begleitetem Tod entstand ein Wallfahrtsort, eine Goldgrube für Verkäufer jeder Art von Maradona-Kitsch. In Wirklichkeit hat dieses jahrzehntelang vollkommen unbeachtet gebliebene Bildchen nichts mit Maradona, der Mannschaft von Napoli oder der Stadt zu tun. Es ist einfach ein Mythos, der sich in einem der vielen Ströme des Napolitourismus entwickelt hat.

Wenn ein Mythos die Massen anzieht, sind Zuschreibungen der Klebstoff: die billige Stadt; die Stadt der Pizza; die Metropole der Gastfreundschaft. Eine allerdings, die unfähig ist, ihre eigene Transformation zu gestalten. Eine, die ihr historisches Zentrum (Unesco-Weltkulturerbe) in eine Ansammlung von Ferienwohnungen verwandelt hat, im Dreiklang mit Billigfliegern und Airbnb.

Dieselbe Stadt, die am 4. Mai den sportlichen Erfolg der mutigen Mannschaft um Trainer Spalletti in ein Fest des kollektiven Stolzes verwandelte, lebt davor wie danach einen Alltag der Unzulänglichkeiten, des Mangels, ja der Unbewohnbarkeit. Wo ist dieser Stolz, wenn es um Engagement für die existenziellen Dinge geht?

Im Schatten des Scudetto

In den Jahren 1987 und 1990 waren die Feiern im Grunde genommen ein städtisches Bacchanal. Die Stadt war sich selbst ausgeliefert und hat sich selbst überlebt. Diese Feiern waren nicht geplant, was vielleicht auch daran lag, dass das sportliche Ergebnis bis zum Schluss in der Schwebe blieb. Auf jeden Fall wurden keine institutionellen Vorkehrungen getroffen. Es war eine ganz andere und viel unruhigere Menge als nun am 4. Mai, es war ein Publikum, das in der Lage war zu verstehen, dass sich im Schatten des Scudetto, des sportlichen Sieges, alles in allem nichts ändern würde. Die Realität blieb, was sie immer gewesen war.

Stattdessen scheint jene dynamische und geordnete Menge, die am 4. Mai 2023 den Umzug des alten Neapels in etwas Neues gefeiert hat, in eine Falle zu tappen, in eine sehr schön verpackte Täuschung. Der Scudetto wurde von einer sportlich gut organisierten und gut trainierten Mannschaft gewonnen. Die Stadt hat ihrer Bevölkerung nichts dergleichen zu bieten. Sie hat keinen Titel gewonnen.

Aus dem Italienischen von Ambros Waibel

Eine längere Version dieses Textes erschien in der Zeitschrift il mulino

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