Menschen und ihr Lebensraum: Naturschutz neu gedacht

Da der Mensch die Ursache der Zerstörung ist, müssen wir also die Natur vor dem Menschen schützen?

Naturschutz, man könnte das auch „Menschenschutz” nennen. Bild: dpa

Die Natur muss vor dem Menschen geschützt werden. Dieser Gedanke drängt sich unweigerlich auf, wenn man den Zustand der Umwelt betrachtet. Dabei ist es ziemlich egal, auf welche Quellen man sich bezieht. Die US-amerikanische Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert hat in ihrem gerade erschienenen Buch „Das sechste Sterben – Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt” (Suhrkamp 2015, 24,95 Euro) zusammengetragen, welches Ausmaß die menschengemachte Ausrottung von Arten und die Zerstörung naturnaher Ökosysteme erreicht haben und wie fatal die Folgen auch für den Menschen sind.

Letztendlich ist das nichts Neues, leider. Aber diese allgemein verständliche Darstellung führt es auch all denen vor Augen, die keinen Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen haben. Solche Veröffentlichungen gibt es zuhauf. Sie dokumentieren den Verlust von Lebensräumen durch die Klimaerwärmung, die schon jetzt Amphibienarten in Bergregionen in immer höhere Lagen zwingt – bis es irgendwann buchstäblich nicht mehr weiter geht. Oder der Niedergang von Tropenwäldern in Borneo durch die Anlage von Ölpalmplantagen, welche die dramatische Abnahme der Populationen von Orang-Utan und Tiger zur Folge haben. Oder die Wilderei, die in Afrika ständig neue Rekordzahlen toter Nashörner und Elefanten schafft. Oder der Verlust von – auch für die Landwirtschaft wirtschaftlich höchst bedeutsamen – Bestäubungsleistungen durch das Sterben von Bienenvölkern. Oder, oder, oder.

Sorge treibt die Tropenforscher um

Standen bei den inzwischen 28 Jahrestagungen der Gesellschaft für Tropenökologie (gtö) – die Mitglieder sind ebenso renommierte Wissenschaftler wie Nachwuchskräfte – anfangs rein wissenschaftliche, gewissermaßen wertfreie Forschungsergebnisse im Mittelpunkt, gibt es inzwischen fast keine Präsentation mehr, die nicht einginge auf Umweltprobleme und Naturzerstörung. Sorge treibt die Tropenforscher um, egal wo sie forschen, egal ob sie noch an ihrer Masterarbeit schreiben oder schon emeritiert sind.

Und die Roten Listen gefährdeter Tier- und Pflanzenarten der Weltnaturschutzunion (IUCN) werden nicht nur immer länger, sondern sie erscheinen auch gar nicht mehr gedruckt. Sobald sie in Buchform vorlägen, wären sie schon veraltet. Sie werden nur noch online veröffentlicht.

Nicht genug neue Arten

Eine häufig gestellte Gegenfrage lautet, ob diesem katastrophalen Verlust an biologischer Diversität nicht die vielen Arten gegenüberstehen, die ständig neu entdeckt werden. Allein bei den Reptilien wurden im Jahr 2014 rund zweihundert neue Arten und Unterarten beschrieben. Die Antwort: Nein. Denn „neu entdeckt” bedeutet ja nicht, dass diese Arten neu entstanden sind, sie sind nur erst jetzt bekannt geworden. Zum großen Teil stammen sie nicht einmal aus aktuellen Aufsammlungen, sondern werden bei der Bearbeitung der in den Depots naturwissenschaftlicher Museen lagernden alten Sammlungen entdeckt.

Insgesamt ist nur ein Bruchteil des biologischen Inventars der Erde bekannt: nämlich gerade einmal rund zwei Millionen Arten von Tieren und Pflanzen, der tatsächliche Bestand wird aber auf zehn bis hundert Millionen geschätzt. Ungezählt viele Arten werden verschwunden sein, bevor sie der Wissenschaft überhaupt bekannt wurden.

So ist es müßig, über Artenzahlen zu spekulieren, wie viele es wirklich gibt, wie viele bedroht sind. Viel erhellender ist es, die Aussterberaten zu betrachten. Diese sind teilweise hundert, tausend oder sogar zehntausend Mal höher, als es unter natürlichen Bedingungen der Fall wäre. Keine Natur ist in der Lage, diese Verluste durch die Evolution neuer Arten auch nur näherungsweise zu kompensieren.

Längst geht es im modernen Naturschutz nicht mehr darum, einzelne schöne, bekannte, seltene, große oder charismatische Tier- und Pflanzenarten vor der Ausrottung zu retten. Sie sind allenfalls die Symbole, die Embleme. Inzwischen geht es darum, ganze Ökosysteme vor dem Zusammenbruch und Verschwinden zu retten, egal ob Moore, Steppen, Flüsse, Stillgewässer, Wälder. Sie alle und viele mehr bedürfen des Schutzes.

Da nun aber der Mensch die Ursache der Degradierung und Zerstörung ist, müssen wir also die Natur vor dem Menschen schützen? Widerspruch. Genau diese Sichtweise ist es nämlich, die den Blick für notwendige Maßnahmen und Politiken zu lange verstellt hat. Die Annahme, hier stehe der Mensch und dort die – vor ihm zu schützende – Natur, ist irreführend. Wir müssen eine Natur erhalten, in der der Mensch seinen Platz hat. Nun lässt sich trefflich feilen an den Definitionen für „Natur” und „Umwelt”, an Abgrenzungen und Gemeinsamkeiten zweier schwammiger Begriffe. Meint der Erstere nur die vom Menschen unbeeinflussten Ökosysteme, Gebiete und Landschaften? Ist „Umwelt” nur anthropozentrisch? Unberührte „Natur” gibt es nur in echten, eben fast oder vollständig menschenfreien Wildnisgebieten und „Umwelt” ist kein Qualitätsmerkmal, sondern einfach die Welt um uns herum.

Die Natur regelt vieles allein

Da ist es doch viel treffender, „Natur” so zu definieren, dass die natürlichen Arteninventare und die Stoffkreisläufe intakt und die Funktionen der Ökosysteme nicht gestört sind. Dann leisten sie dem Menschen auch wichtige Dienste.

Ein intaktes Auengebiet schützt vor Überschwemmungen weitaus billiger und effizienter als jeder Deich, der in aller Regel Hochwasserspitzen nur verlagert, nicht verhindert. Mangroven sind der beste Küstenschutz. Intakte Wälder liefern Brenn- und Bauholz, saubere Luft, Nahrung. Sie bieten Anreize für Poesie, sind Horte der Romantik wie der biologischen Vielfalt, sie schützen den Boden und speichern Kohlendioxid.

Der ganzheitliche Blick ist wichtig

Es ist ein fast unüberschaubarer Wirrwarr von Ansprüchen an den Wald und von Ökosystemdienstleistungen, die ein intakter Wald erbringt. Wird zum Beispiel der Wald bewirtschaftet, um nur eine Dienstleistung zu nutzen, werden oft die anderen übersehen – und belastet. So lassen sich schnell wachsende Bäume pflanzen, die viel Treibhausgas speichern, doch das läuft dem Schutz der Biodiversität zuwider. Der ganzheitliche Blick ist wichtig, selbst wenn dies zu wirtschaftlichen Nachteilen für Waldbesitzer führt. Deshalb fordert der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), der die Bundesregierung berät, für solche Fälle Entschädigungs- und Ausgleichszahlungen. Das heißt: Wer mit seinem (Land-)Besitz Leistungen für die Allgemeinheit erbringt, soll dafür öffentliche Gelder erhalten.

Umgekehrt darf es aber auch nur öffentliche Gelder für öffentliche Güter geben. So könnten Landwirte von Subventionsempfängern und Artenvernichtern zu Bewahrern einer intakten (nicht unberührten!) Natur avancieren. In den Agrartöpfen der Europäischen Gemeinschaft wären dazu Gelder vorhanden, doch werden diese leider nicht in diesem Sinne eingesetzt. Egal auf welches der vielen globalen Umweltprobleme man blickt: Die Stickstoffbelastung von Böden und Gewässern, die Monokulturen von Soja, Eukalyptus, Gummibäumen, die Shrimpkulturen in den Mangroven – sie alle führen zur Monotonisierung ganzer Landstriche, zur Monopolisierung von Gütern und damit zur Verarmung der Landbevölkerung in Entwicklungs- und Schwellenländern.

geboren 1951 in Nürnberg, ist Professor für Internationalen Naturschutz an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Direktor des Frankfurter Zoos. Er ist Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen der Bundesregierung und Präsident der Gesellschaft für Tropenökologie.

Arme Piraten

Die vernichtende Fischereipolitik mit ihren nationalen Egoismen, die rücksichtslosen Fangmethoden und immer noch kontraproduktiven internationalen Regelungen haben zur Überfischung der Meere geführt. Das gefährdet großflächig die Eiweißversorgung der Menschen in weiten Gebieten. Auch hier sind die negativen sozialen Folgen sehr weitreichend. So sind die somalischen Piraten keine geborenen Kidnapper von Schiffen, sondern vor allem ehemalige Fischer, denen durch industrielle Fischereiflotten ihre Erwerbs- und Lebensgrundlage genommen wurde. Der Klimawandel und seine Folgen tun ein Übriges.

Zum Träumen keine Zeit

Der Verlust von Nutzungsoptionen betrifft nicht erst künftige, sondern auch schon jetzt lebende Generationen. Das zeigen auch die aktuellen Flüchtlingsdramen auf dem Mittelmeer. Sie sind, sieht man einmal von Kriegsflüchtlingen ab, insbesondere ausgelöst durch den Mangel an Trinkwasser, fruchtbaren Böden, biologischen Ressourcen und durch ungerechte Verteilung der Güter in den Heimatländern der Flüchtlinge. Sie lassen sich nicht verhindern durch höhere Zäune um die spanischen Enklaven in Nordafrika, durch das Versenken von Schlepperschiffen, die Verschärfung der Visaregelungen und der Asylpolitik, die wenig mehr bedeuten als ein Laborieren an Symptomen. Die Ursachen lassen sich nur mit weitsichtiger Umwelt- und Entwicklungspolitik, wenn nicht mehr heilen, so doch zumindest mildern. In seiner Besprechung des Buches von Elizabeth Kolbert in der Zeit vom 29. April fordert Reiner Klingholz, Vorstand des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, wir sollten deshalb „den verträumten Begriff des Naturschutzes ablegen und uns dringend dem Menschenschutz widmen”.

Ja, zum Träumen ist kein Platz und keine Zeit. Die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen der Erde zwingt uns, naturverträglich zu wirtschaften, wenn die Zukunft gesichert werden soll. Nur wenn es gelingt, die Ressourcennutzung von ihren negativen Umweltauswirkungen zu entkoppeln, besteht die Chance auf Sicherung der menschlichen Lebensgrundlagen. Dann ist sogar ein weiterer Anstieg der Wohlfahrt für die Menschheit erreichbar. Es bedarf also des Schutzes der Natur nicht vor dem Menschen, sondern für ihn. Das Plädoyer muss somit einem modernen Naturschutz gelten. Man könnte das auch „Menschenschutz” nennen, wenn der Begriff nicht so überfrachtet wäre mit Denkweisen, Maßnahmen und Politiken, die allzu lange die ökologischen Voraussetzungen und Grundlagen unseres Daseins missachtet haben.

MANFRED NIEKISCH

Der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeozwei 3/2015. Gerne können Sie den Artikel auf unserer Facebook-Seite diskutieren.