Mobilmachung in Russland: Wenn der Krieg sprachlos macht

Mit der Teilmobilmachung erreicht Putins Feldzug gegen die Ukraine jede russische Familie. Journalisten merken, dass sie anders schreiben müssen.

Ein Mann mit weißem Bart hat sich aus Protest an einen Pfahl gekettet. Polizisten schneiden ihn los.

Protest in Moskau: Ein Mann hatte sich im Dezember 2021 vor dem obersten Gerichtshof angekettet Foto: dpa

Neun Monate nachdem russischen Truppen in die Ukraine einmarschiert sind, können wir sagen, dass die russischen Medien keine ethischen Richtlinien für Texte gefunden haben, um über die Katastrophe und die ganzen Folgen dieses militärischen Konflikts für die Russen zu sprechen. Immer wieder höre ich: „Ich lasse die Nachrichten nicht mehr an mich heran.“„Ich will das nicht lesen.“ „Ich bin müde von diesen Nachrichten über den Krieg.“ Das alles ist verständlich.

Seit Ende Februar hat eine aggressive Informationswelle alle Kommunikationskanäle erfasst: Am häufigsten geht es um Bewegungen der Frontlinien und Kriegsverbrechen, die während des Konflikts begangen werden. Dies ist sicherlich eines der wichtigsten Themen, aber viele humanitäre Fragen und kriegsbedingte Zerstörungen und Verheerungen bleiben im Dunkeln. Darunter sind auch Texte von Russen über sich selbst. Ich habe mit Leuten gesprochen, die Medien auf Russisch für Russen machen, und erfahren, dass sie auch viel darüber nachdenken, wie sie mit ihrem russischsprachigen Publikum innerhalb und außerhalb Russlands sprechen können.

Vor der Ankündigung der Mobilmachung waren die Lage an der Front und Geschichten über Kriegsverbrechen die wichtigsten Informationen. Für den durchschnittlichen Russen blieben sie jedoch abstrakt. Jetzt ist der Krieg jedoch in jeder Familie angekommen. Man kann sagen, dass die Inhalte mittlerweile zielgerichteter geworden sind.

Es gibt mehr Geschichten über die Rechte der Menschen, und persönliche Erzählungen treten in den Vordergrund: Geschichten über den Verlust von Angehörigen im Krieg. Unsere Aufgabe als Journalisten ist es, nach einer Sprache zu suchen, die es uns ermöglicht, durch Empathie einen Dialog mit dem Publikum aufzubauen und menschliche Tragödien zu zeigen“, sagt Sweta Dyndykina von dem unabhängigen Videoprojekt ROMB.

Es geht um Geschichten von gewöhnlichen Russen und Versuche zu verstehen, wie sie leben, warum sie in den Krieg ziehen und wie ihre Familien nach dem Verlust ihrer Verwandten im Krieg leben. Viele sind auf der Suche nach einem Spiegelbild ihrer Ängste und wollen ihre Emotionen mit Gleichgesinnten teilen – auch um sich selbst zu verstehen.

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Nur wenige Menschen in Russland sind in der Lage, sich unter den gegenwärtigen Umständen objektiv mit Soziologie auseinandersetzen. Viele Journalisten leugnen sogar die Bedeutung von Soziologen: Sie sind der Meinung, dass die Russen in der gegenwärtigen Situation nicht ehrlich antworten werden.

Es gibt Gruppen von Soziologen, die Umfragen durchführen und dafür unter großen Mühen Geld sammeln, aber man bekommt einen Eindruck von den Gedanken und der Stimmungslage der Russen. So haben Soziologen des Projektes „Chroniken“ nach der Analyse ihrer Umfragedaten festgestellt, dass seit Anfang Juli ein Wendepunkt in der Einstellung der Russen zum Krieg erkennbar ist.

Die Unterstützung für den Krieg fällt stetig (von 54 auf 51 Prozent). Das gilt auch für die Werte derjenigen, die die Mobilmachung gutheißen. Laut einer Umfrage vom 29./30. September ist der Wert von Unterstützern der Mobilmachung um weitere 5 Prozentpunkte gefallen. Es ist ziemlich schwierig, über diese Daten zu sprechen. In den russischen Medien ist das Interesse an Daten und der Arbeit von Soziologen minimal. Es ist buchstäblich so: Die Bewohner einer russischen Region wissen möglicherweise nicht, was in der benachbarten Region passiert.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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die Autorin arbeitet als Journalistin in Moskau. Sie war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

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