Montagsinterview mit Matthias Lilienthal: „Berlin ist immer auf der Suche nach dem letzten Kick“

Matthias Lilienthal gehört zu den Gewinnern des diesjährigen Berliner Theatertreffens. Gleich zwei Produktionen des HAU sind dort vertreten.

Matthias Lilienthal Bild: David Oliveira

taz: Herr Lilienthal, als ich vor zehn Jahren Theaterredakteurin bei der taz wurde, leiteten Sie das Theater der Welt im Rheinland. Dann wurden Sie Intendant am HAU in Berlin. Ihre Arbeit, die Suche des Theaters nach einer größeren Annäherung an die Realität, war für mich immer ein wichtiger Orientierungspunkt. Jetzt machen Sie eine unerwartete Bewegung: Sie gehen nach Beirut. Hat das wieder mit dem Gefühl zu tun, näher an die Realität ranzuwollen?

Matthias Lilienthal: Für mich ist es einfach gut, ein Jahr aus der Stadt zu kommen. Während des Studiums hatte ich nie Gelegenheit für zwei Auslandssemester, das hole ich jetzt in hohem Alter nach.

Warum Beirut?

Der Berliner: Matthias Lilienthal, geboren 1959, wuchs in Neukölln auf, in einer Villa auf dem Gelände des Gaswerks, in dem sein Vater als stellvertretender Leiter arbeitete. Er studierte Theaterwissenschaft, gehörte zur Hausbesetzerszene und schrieb für die taz und die Süddeutsche Zeitung. In Basel begann er 1988 als Regieassistent und Dramaturg.

Der Theatermann: In den neunziger Jahren erfand er zusammen mit Frank Castorf das Theater an der Volksbühne neu, plante erstmals Diskurswochenenden und begann die Zusammenarbeit mit Christoph Schlingensief. Schon damals gehörte die Idee, dass Überforderung durch die Kunst für alle Teilnehmer produktiv sein kann, zum Konzept.

Im HAU: Als er 2003 die Leitung des HAU übernahm, konnte er die Kontakte in die Theaterszenen von Belgien, New York oder Argentinien weiter ausbauen. Das HAU erfand auch viele neue Formate, wie X-Wohnungen, um das Theater an viele Orte der Stadt zu bringen.

Der Abschied: Die Überraschung war groß, als Lilienthal letztes Jahr erklärte, seinen Vertrag nicht verlängern zu wollen. Aber Routine zu durchbrechen, das war ihm auch schon wichtig, als er die Volksbühne verließ.

Das Theatertreffen: "Hate Radio" läuft am 16., 17. und 18. 5. im HAU 2; "Before your very eyes" am 17., 18. und 19. 5. im Haus der Berliner Festspiele.

Wir haben hier viele Programme mit der Beiruter Szene gemacht, erst „Middle East News“ mit Catherine David. Seit „Theater der Welt“ arbeiten wir mit Rabih Mroué, der hier das Festival „2.732 Kilometer from Beirut“ kuratiert hat. Seine Frau, Lina Saneh, organisiert in Beirut die Ausbildung von Postgraduate-Studenten der Bildenden Künste. Direkt neben dem Beirut Art Center – das vergleichbar ist mit den Berliner KunstWerken – liegt der Raum für junge Künstler, ideal, um eigene Werke zu produzieren. Mit 15 dieser jungen Künstler werde ich für zehn Monate an ihren Projekten arbeiten, versuchen, sie mit bestimmten Positionen bekannt zu machen.

Vergangenes Jahr hat sich im arabischen Raum so viel politischer Aufbruch und Mut gezeigt, wie man es jahrelang nicht für möglich hielt.

Mich interessiert durchaus auch, in der Zeit dort an einem Festival über die Veränderungen in der arabischen Welt zu arbeiten. Für mich ist es eine Möglichkeit, den Kopf mal durchlüften zu lassen und nicht jeden Abend Gastgeber bei einer Premiere zu spielen.

Kurz vor Ihrem Weggang wurden zwei Produktionen zum Theatertreffen eingeladen, an denen das HAU als Produzent entscheidend beteiligt ist: „Hate Radio“ von Milo Rau und „Before your very eyes“ von Gob Squad. Ist das ein super Abschied?

Ich finde, das ist eine Auszeichnung der Arbeit vom HAU. Das Theatertreffen hat auch eine richtige Entscheidung getroffen, sich gegenüber der freien Szene zu öffnen. Ich hoffe, auch in Zukunft werden 20 bis 30 Prozent der eingeladenen Stücke aus dieser Szene kommen.

Beide Projekte sind durch internationale Koproduktionen zustande gekommen und mehrsprachig. In „Hate Radio“ wird Französisch und Kinyarwanda gesprochen, in „Before your very eyes“ Englisch und Flämisch, Übertitelungen und Übersetzungen ins Deutsche oder Englische sind Teil der Ästhetik. Sehen Sie die Einladungen auch als ein Signal für mehr Internationalität im deutschen Theater?

Austausch und Zusammenarbeit werden für die nächsten Jahre zunehmend wichtiger, egal wie die Struktur eines Theaters bisher ist. Der Grundgedanke des Stücks „Before your very eyes“ ist: Acht- bis zwölfjährige Kinder spielen ihr ganzes Leben durch. Das hat einen extremen Reiz. Da ist eine große Vitalität entstanden und viel Raum für Wechsel der Blickwinkel. Ob das in Englisch oder Deutsch passiert, das ist langsam wurscht. Gob Squad ist durch und durch eine Berliner Gruppe, die zur Hälfte aus Menschen besteht, die in erster Linie Englisch sprechen.

Sie gelten als Mann für schwierige Fälle. Trotzdem frage ich mich, wie man als Intendant den Mut findet , ein Projekt wie „Hate Radio“ zu unterstützen: Ein junges Regie- und Dramaturgenteam fährt dafür nach Ruanda, um über den Krieg zwischen Hutu und Tutsi zu recherchieren, der im Land tabuisiert ist. Das ist doch mit vielen Unwägbarkeiten belastet, der Erfolg war nicht vorhersehbar.

Realitäts- und Dokumentartheater ist ein großes Thema des HAU. Na ja, der Hauptstadtkulturfonds fand Milo Raus Konzept interessant, die anderen Koproduzenten … Auf eine komische Art ist das der Luxus, den sich Häuser wie das HAU relativ einfach leisten können. Unser großer Vorteil ist, dass wir in der dritten Reihe sitzen. Die Medien und die Menschen freuen sich, wenn etwas zustande kommt. Aber wir werden fast nie geprügelt, wenn etwas ein bisschen misslingt. Wir konnten meistens in aller Ruhe fummeln. Seit Anfang des Jahres ist das etwas anders geworden: Seitdem ist alles ausverkauft. Wir haben das Gefühl, die Stadt möchte das HAU mit dem jetzigen Team noch mal genießen. Aber man merkt auch, dass die Latte auf einmal eine Stufe höher hängt.

Ihre Nachfolgerin, Annemie Vanackere, hat lange in Rotterdam gearbeitet. Da wird die Kultur stark beschnitten, ab 2013 wird ein Viertel der Kultursubventionen gestrichen. Gleichzeitig hat in Deutschland das Buch „Der Kulturinfarkt“ große Aufregung ausgelöst. Dessen Autoren schlagen vor, die Hälfte der Museen und Theater zu schließen, damit die andere Hälfte beweglicher wird. Muss man nicht befürchten, dass sich die Politik dieser Argumentation annimmt?

Es gibt doch von Carl Spitzweg das berühmte Biedermeier-Gemälde „Der arme Poet“. In der Diskussion mit Politikern begegnen einem oft Metaphern, die sehr an dieses Bild erinnern. Bei jedem Unternehmen in der Kommunikationsbranche ist klar, dass Menschen, die gut versorgt werden, bessere Arbeitsergebnisse zustande bringen als unter Druck und unter Not. Nur für Künstler wird das Gegenteil angenommen. Für mich ist „Der Kulturinfarkt“ eine Reproduktion dieses zutiefst kultur- und intellektuellenfeindlichen, reaktionären Schemas.

Die Autoren kritisieren, dass sich die Kunst zu wenig am Markt bewähren muss.

Den Glauben an den Markt als eine der Kunst förderliche Basis teile ich nicht. Berlin steht wegen der städtischen und staatlichen Subventionen so blendend da in der Welt, als kreative Stadt. Wenn man in New York Taxi fährt, hört man im Radio einen Bericht über die großartige Stadt Berlin mit den drei Opernhäusern. Das wird als kulturelles Paradies gesehen – das ist der größte Image-Faktor, den die Stadt hat.

Trotzdem bleibt die Frage, wie man die Mittel in der Kultur wieder beweglicher bekommt.

Wenn es der Politik nicht zusteht, künstlerische Leistungen von Institutionen zu bewerten, dann läuft das auf eine Ewigkeitsgarantie für alle Institutionen hinaus. Und das ist nicht richtig. Doch selbst wenn man gesehen hat, dass ein Theater, ein Museum sich überlebt hat, und man es schließen will – solange es BAT-Stellen gibt, sind die Beschäftigten trotzdem geschützt. Durch das Arbeitsrecht wird die Ewigkeitsgarantie also indirekt wieder eingeführt. Insofern steckt in „Kulturinfarkt“ ein ernst zu nehmender Anstoß: dass man drüber nachdenken muss, wie man Mittel innerhalb des Kultursektors freibekommen kann, in dem man auch mal was infrage stellt. Um die Mittel für neue künstlerische Projekte zur Verfügung zu stellen.

Bernd Neumann, der Staatsminister des Bundes für Kultur, hat bei der Eröffnung des Theatertreffens betont, man wolle kein Theater schließen. Trotzdem bleibt die Angst.

Die Gefahr, dass der Funke überspringt, ist extrem groß. In den Niederlanden ist es der Fall; die gleiche Diskussion beginnt in Belgien. Man darf nicht die Debatte nicht vergessen, die in Mecklenburg-Vorpommern tobt: Sicher aus einer großen Not heraus werden die Theater in Rostock, Schwerin und weiteren Städten infrage gestellt. Mir kommt das immer merkwürdig vor, weil es in der Summe minimale Beträge sind und selten wirklich etwas spart. Deswegen halte ich es auch für notwendig, dass Kulturschaffende und Politiker in einen Dialog darüber eintreten, wie wir vernünftige Prozesse der Erneuerung schaffen.

Von wo könnte denn so ein Dialog ausgehen, wer sollte den starten?

In Berlin vom Kulturstaatssekretär André Schmitz und mir, exemplarische Gestalten aus der Kulturszene und der Verwaltung. Das ist natürlich ein wahnsinniges Tabuthema, weil es ein klares und sinnvolles Verbot gibt, über die Finanzierung von anderen Künstler zu urteilen. Sich solidarisch zu verhalten, ist die Spielregel. Es gibt ja jetzt von den Grünen einen Vorschlag zur Umverteilung: Ein Prozent von dem, was die Institutionen bekommen, soll an die freie Szene gehen …

Das finden Sie richtig?

Das finde ich Blödsinn. Die Volksbühne pfeift aus dem letzten Loch, wir pfeifen aus dem letzten Loch. Ich sehe nicht, dass es grandiose Überfinanzierungen gibt. Deshalb scheue ich die Umverteilungsdebatte. Wenn es der Wirtschaft nur ein Viertel so gut ginge wie dem kulturellen Sektor der Stadt, wenn auch nur ein Viertel so viel Professionalität dort zu Hause wäre – dann würde es der Stadt deutlich besser gehen.

Für Ihren Abschied haben Sie große Projekte geplant. Als ich gelesen habe, dass Sie den Roman „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace zur Grundlage einer Theaterperformance machen wollen, dachte ich: Das kann nicht funktionieren. Der Roman ist schließlich nicht nur berüchtigt ob seiner Länge und der vielen Fußnoten, sondern auch ob der vielen rätselhaften Bilder. Was hat Sie denn da geritten?

Das waren verschiedene Punkte. Ich suchte nach Projekten, bei denen ich viele von den Performern zusammenbringen kann, mit denen wir insgesamt neun Jahre lang zusammengearbeitet haben. Das HAU war auch immer ein Haus der extremen Überforderung, das habe ich von Frank Castorf gelernt, dem Intendanten der Volksbühne. Deshalb die Idee, die Überforderung von den 1.500 Seiten des Romans zu nehmen und zu übersetzen in 24 Stunden Performance hintereinander.

Mit dem Roman ziehen Sie aus dem Theater aus?

Im Gespräch mit Raumlabor, einer Gruppe von Künstlern und Architekten, tauchte gleich der Gedanke auf, dass die Langeweile, die im Roman den mittleren Osten der USA prägt, eine Entsprechung finden kann in der Langeweile der Peripherie Westberlins. Dort, etwa in Gropiusstadt oder Zehlendorf, habe ich den Eindruck, dass sich seit 1989 nichts verändert hat, nichts passiert ist. Wir sind zum Beispiel in Kontakt mit dem Tennisclub Rot-Weiß, dessen Steffi-Graf-Stadion in Grunewald mit 7.500 Plätzen im Bewusstsein der Stadt überhaupt keine Rolle spielt. In dem Roman „Unendlicher Spaß“ bestehen die USA ja zur einen Hälfte aus scheinbar leistungsorientierten Menschen an einer Tennisakademie und zur anderen aus Drogenabhängigen. Am Ende merkt man, dass eigentlich alle drogenabhängig sind, ob Tennisstars oder Junkies. Und die Stadt Berlin ist auch immer auf der Suche nach dem letzten Kick, wie alle Protagonisten aus dem Roman auch. Deshalb passt das. Natürlich kann man sich mit dem Ding eigentlich nur auf die Fresse legen.

Wird noch mehr Westberlin zum Schauplatz?

Es soll eine Reise werden über den Teufelsberg, Rot-Weiß, die Tierklinik Düppel und das Krankenhaus Neukölln bis zum Finanzamt Reinickendorf. Im West- und Ostberlin der siebziger und achtziger Jahre gab es eine Lust an utopischer Architektur. Man kann nur staunen, welche Träume trotz der angespannten politischen Situation damals möglich waren. Diese Architektur ist jetzt oft sanierungsbedürftig oder steht vor dem Abriss. Schon deshalb lohnt sich ihre Sichtung.

Das zweite Projekt ist eine „Weltausstellung“ auf dem Tempelhofer Feld. Warum gerade dort?

Das Ding heißt „The world is not fair – Die große Weltausstellung 2012“. Das ist eine performative und bildende Kunstausstellung in 15 Pavillons. Die Stadt hat sich extrem verändert. Der Ku’damm und Unter den Linden sind ja tot, das Stadtzentrum ist der Hermannplatz, und der Flanierboulevard der Stadt ist die Start- und Landebahn von Tempelhof geworden. Jeden Sonntag sind da zwischen 30.000 und 50.000 Menschen unterwegs, die skysurfen, Skateboard fahren, Rad fahren. Die größte Demonstration von vergnügungssüchtigen Menschen im Mai und Juni findet doch eindeutig auf der Start- und Landebahn statt. Dort findet man die Berliner.

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