Mutter und Buchautorin über Magersucht : "Den Verfall sieht man am Küchentisch"

Marie und Anna waren 14, als sie magersüchtig wurden. Ihre Mutter Caroline Wendt musste miterleben, wie die Kinder immer dürrer wurden. Sie hat darüber ein Buch geschrieben.

Für eine Mutter fast unerträglich: Das eigene Kind hungert sich krank. Bild: imago/peter widmann

taz: Frau Wendt, Sie haben ein sehr persönliches Buch über die Magersucht Ihrer Töchter geschrieben. An welchem Punkt dachten Sie: Ich muss das aufschreiben?

Caroline Wendt: Eigentlich haben mich meine Töchter Marie und Anna darauf gebracht. Ich habe in der Zeit der akuten Erkrankung der Kinder, in den ersten anderthalb Jahren, Tagebuch geschrieben. Um mich zu entlasten und mehr Klarheit zu gewinnen. Und die Mädchen haben dann gesagt: Da musst du was draus machen, Mama. Aber der Hauptantrieb war eigentlich, dass ich unsere Erfahrungen an andere Eltern weitergeben will. Vor allen Dingen an die Mütter.

Warum an die Mütter?

Ja, die Mütter und das Schuldthema, das war schon ein Antrieb. Es gibt ja eine Menge Bücher über Magersucht, von Ärzten, Psychologen. Das habe ich mir alles besorgt, als die erste Tochter, Marie, in die Krankheit gekommen ist. Viele von diesen Autoren nehmen die Eltern in Haftung, das ist ziemlich verbreitet. Da liest man ständig von den diversen Fehlern der Eltern. Das fand ich entmutigend.

Was möchten Sie Ihren Lesern, also den Müttern, signalisieren?

Ich sage: Die Magersucht eures Kindes ist zwar eure Sache, aber sie ist nicht euer Fehler. Magersucht ist in den Familien angelegt, das weiß man heute. Aber die Krankheit wird natürlich auch ausgelöst durch Konflikte, so wie eine Depression auch ausgelöst wird. Als Mutter macht man sich so wahnsinnige Vorwürfe, wie so etwas passieren konnte.

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Die Krankheit: Magersucht, lateinisch Anorexia nervosa, ist eine seelisch bedingte Essstörung. Laut dem Deutschem Institut für Ernährungsmedizin leiden mehr als 100.000 Menschen, vor allem Frauen, an Magersucht. Der Anteil der Männer liegt bei 5 bis 10 Prozent. Die PatientInnen leiden an einer Körperschemastörung: trotz Untergewichts nehmen sie sich als dick wahr. Oft beginnt die Erkrankung mit einer Diät, die dann außer Kontrolle gerät. 15 Prozent der PatientInnen sterben.

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Die Symptome: Durch die Mangelernährung frieren die Kranken, ihnen ist oft schwindelig, die Haut trocknet aus, auf Rücken, Armen und Gesicht bilden sich feine Härchen. Frauen haben ihre Regel nicht mehr, Männer werden impotent, bei Mädchen und Jungen verzögert sich die Geschlechtsreife.

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Die Hilfe: Betroffene, Angehörige und Pädagogen können sich auf der Website der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung informieren: www.bzga-essstoerungen.de

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Caroline Wendt, Autorin und Sachbuchlektorin, 49, lebt mit ihrer Familie in München. "Ich kann nicht anders, Mama" - Eine Mutter kämpft um ihre magersüchtigen Töchter (Droemer Knaur, 2011, 9,99 Euro) ist ihr erstes Buch.

Warum ist das so?

Es ist einfach schrecklich, das eigene Kind beim Verhungern zu beobachten. Ein Albtraum für eine Mutter. Hinzu kommt, dass Schuldvorwürfe noch von der tiefenpsychologisch ausgerichteten Psychotherapie … nun ja, ungut unterstützt werden.

In Ihrem Buch schreiben Sie von der "Kontrollmami", die eigentlich helfen möchte, aber mit ihrem ständigen Eingreifen alles noch schlimmer macht für das Kind.

Man muss unterscheiden zwischen der Mutter, wie sie vor der Erkrankung war, und der Frau, wie sie sich während der Erkrankung verhält. Man hat von der angespannten Mutter eines magersüchtigen Kindes zurückgeschlossen auf eine generelle "Kontrollmami". Das ist auch eines der Klischees über die Genese der Magersucht. Wie auch die "Festungsfamilie", die keine Gefühle zulassen kann und in der diese Krankheit bevorzugt ausbricht. Das ist alles widerlegt inzwischen, aber es geistert halt so in den Köpfen herum. Dann gibt es noch die überfürsorgliche Mami, die immer hinter dem Kind her ist, und das Kind muss sich quasi wehren, indem es eine psychische Erkrankung bekommt. Wenn man das mal richtig zu Ende denkt, merkt man, dass das für die Betroffenen selbst eine blöde Interpretation ist - als würden sie diese Krankheit bewusst oder unbewusst extra bekommen, um sich an den Eltern zu rächen.

Waren Sie überfürsorglich? Im Buch beschreiben Sie, wie Sie mit Ihren Töchtern am Tisch sitzen und kommentieren, was und wie viel sie essen.

Ich habe eine ganze Weile gebraucht, damit aufzuhören. Die Psychotherapeuten haben mir das auch geraten. Ist ja auch richtig, aber es ist mir wahnsinnig schwer gefallen. In unserer Familientherapie ging es unter anderem darum, dass wir alle eine Störung haben, dass sich bei uns Gefühle nur übers Essen äußern würden. Das war so ein Schmarrn! Ich habe gesagt: Nein, das stimmt nicht! Und dann sagen die: Ja, Frau Wendt, wenn Sie sich darüber so sehr aufregen, dann ist wohl doch was dran. Sehen Sie, was ich meine? Das ist doch perfide.

Haben Sie die Magersucht Ihrer Töchter als Provokation empfunden?

Hungern ist Provokation. Hungern ist Macht. Ich habe mich oft von der Magersucht provozieren lassen und mich sehr über mich selbst geärgert, über die Aggression, den vielen Streit, den der Hunger in unserer Familie ausgelöst hat. Bis der behandelnde Klinikarzt mich entlastet hat. Frau Wendt, hat er gesagt, Gandhi hat mit einem Hungerstreik ein ganzes Weltreich ins Wanken gebracht, die RAF-Terroristen haben mit dem Hungern den Staat provoziert. Hungern, das hat eine solche Wirkkraft, da bleibt keiner cool. Aber es ist, das muss man erst lernen, nicht so gemeint von den Betroffenen, die ja am meisten unter dieser Störung leiden.

Wie kann man sich das vorstellen: Gehen die Kinder in eine Art Hungerland?

Ja, es ist eine Welt für sich. Aber man begibt sich da nicht mehr oder weniger freiwillig hinein, diese Krankheit kriegt einen, sobald man ihr den kleinen Finger gibt. Das konnte ich bei unseren Töchtern sehen: Marie hatte als Zwillingsschwester eine Identitätskrise und fing an zu diäten. Sie wollte anders sein als ihre Schwester: dünner. Wenn man dann diese Anlage in sich trägt, besteht höchste Gefahr. Man kann sich irgendwann nicht mehr gegen den Sog der Krankheit wehren.

Welche waren für Sie die beunruhigendsten Symptome?

Jeder Tag, den sie mehr hungern, ist ein Unglückstag. Und das weiß man als Mutter und muss trotzdem versuchen, ruhig zu bleiben. Die Auswirkungen sind ja enorm. Bei den Mädchen bleibt die Regel aus, sie frieren die ganze Zeit, weil der Stoffwechsel unten ist, ihre schöne Haut wird ganz trocken, die Kopfhaare gehen aus, während sich am Körper ein Flaum bildet. Und diesem Verfall sieht man jeden Tag am Küchentisch zu, das ist die totale Bedrohung.

Es fällt auf, dass im Buch Ihr Mann zurückgenommen wirkt, eher leise verzweifelt. Was war da los?

Er hat sich nicht so wie ich in diesen Kampf begeben ums Essen. Da war er eigentlich gescheiter als ich. Bis heute kann er nicht verstehen, wie man so etwas Bescheuertes tun kann, zu hungern. Warum man sich selbst so schädigt, wenn man doch so wunderbar ist wie seine Töchter. Die Marie, okay, das konnte er noch verstehen, sie hatte ein Identitätsproblem. Sie wollte anders sein als die Schwester. Das hat jeder verstanden, diesen psychologischen Hintergrund. Aber warum kriegt Anna das auch noch, ohne ein Problem zu haben? Nur weil sie das Beispiel der Schwester hat und sie dann plötzlich auch nicht dicker sein will als die andere. Da kam er überhaupt nicht mehr mit.

Marie und Anna sind mit 14 Jahren in die Magersucht gerutscht und kamen nach etwa 18 Monaten wieder heraus. Sie sind jetzt 18. Sind die Mädchen geheilt?

Ich habe immer gedacht, Heilung ist möglich, ich wollte ja das Buch auch so abschließen. Und dann kam Maries Rückfall, und ich musste noch ein weiteres Kapitel über Rückfälle schreiben. Noch immer können die Zwillinge nicht gut zusammen am Tisch sitzen, das bleibt schwierig. So was dauert halt. Und das muss man eben auch den anderen Eltern sagen. Man muss da einfach Geduld haben und sehr viel Zuversicht.

Haben Ihnen selbst solche Ermutigungen in der Zeit der akuten Erkrankung geholfen? Woraus haben Sie Zuversicht geschöpft?

Ich muss zugeben, dass ich in der Zeit der akuten Gefahr manchmal nur noch verzweifelt war. Kurz vor einer Depression. Aber ich habe wohl auch eine innere Stärke vorher schon gehabt, ein inneres Haus, in das ich gehen kann. Außerdem musste ich ja auch für die anderen in der Familie funktionieren, wir haben ja noch den Jakob, unseren Nachzügler. Und ich habe meinen Mann, den liebe ich ja auch. Irgendwann denkt man, man lebt ja nicht nur für die Töchter. Ich hatte dann schon so einen Punkt, wo ich mich frei gemacht habe, wo ich gesagt habe: Wenn ich jetzt vor die Hunde gehe vor Sorgen, dann bricht hier alles zusammen.

Hat die Krankheit irgendetwas Sinnhaftes gehabt?

Ich weigere mich zu sagen: Es hatte alles einen Sinn, und jetzt können wir besser miteinander reden und so weiter. Nein, ich glaube, wir hätten lieber auf diese Erfahrung verzichtet. Dafür ist diese Krankheit einfach zu gefährlich.

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