Muttermilch für Frühgeborene: Früh übt sich

Ein Forschungprojekt untersucht, wie alle Frühchen unter 1.500 Gramm Zugang zu Muttermilch bekommen könnten – zum Beispiel mithilfe von Milchspenden.

Zwei Säuglinge hängen an der Brust der Mutter

Muttermilch passt sich sehr genau an die Entwicklung und benötigte Nährstoffe des Kindes an Foto: Anders Thessing/Bildhuset/plainpicture

Nach der Geburt ihrer Tochter kippte Jessica Hübel ihre Muttermilch wochenlang in den Abfluss. Das Kind kam in der 31. Woche per Kaiserschnitt zur Welt, Jessica Hübel hatte eine Präklampsie, auch bekannt als Schwangerschaftsvergiftung, die starken Bluthochdruck zur Folge hat. Weil sie noch lange nach der Entbindung Blutdrucksenker nehmen musste, kam ihre Milch für die Tochter vorerst nicht infrage.

Mit dem Wegkippen war sie nicht allein: Auf der neonatologischen Intensivstation traf sie eine andere Mutter, die ihre Milch entsorgen musste – weil sie viel mehr produzierte, als der Säugling brauchte. „Und da habe ich mich natürlich gefragt: Warum kann sie mir ihre Milch nicht einfach abgeben?“

Wissenschaftlich ist unbestritten, dass Muttermilch Frühgeborene bestmöglich versorgt und überlebenswichtig sein kann. Beispielsweise ist das Risiko für Infektionen des Magen-Darm-Trakts, die sogenannte nekrotisierende Enterokolitis, sehr viel geringer. Hübels Tochter, die zu Beginn künstliche Säuglingsnahrung erhielt, erkrankte daran. Muttermilch ist für Frühgeborene zudem leichter verdaulich, fördert Sehvermögen und das Hirnwachstum.

For­sche­r:in­nen haben nachgewiesen, dass Kinder, die über zwölf Monate gestillt werden, später einen leicht höheren Intelligenzquotienten besitzen. Eine Studie in der Fachzeitschrift Neuro­Image konnte sogar sichtbar machen, dass die Myelinscheiden, die die Reizweiterleitung von Nervenzellen im Gehirn optimieren, im ersten Lebensjahr schneller wachsen. Die For­sche­r:in­nen vermuten, dass das an den langkettigen Fettsäuren in der Muttermilch liegt.

Besonders bei Frühgeborenen passt sich die Milch sehr genau an die Entwicklung und benötigte Nährstoffe an. Neben Fett und Kohlenhydraten enthält sie Hormone, Proteine, Enzyme, Prä- und Probiotika. Zahlreiche Studien belegen, wie günstig diese Zusammensetzung ist. Laut dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) reduziert Stillen in den ersten vier bis sechs Monaten die Anzahl von Infektionen um 40 bis 70 Prozent.

In Deutschland ist nicht einheitlich bestimmt, ob Muttermilch ein Lebensmittel, Arzneimittel oder eine Organspende ist

Muttermilch zu teilen ist aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll – und mancherorts auch möglich. In Deutschland gibt es 30 Humanmilchbanken, die Milch von Spenderinnen weiterverteilt. Darauf kommen allerdings 200 Peri­natal­zentren, also Einrichtungen für Frühgeborene. Das heißt, nur wenige Standorte haben Zugang zu diesen Milchbanken.

Dass nicht einfach jede Neonatologie ihre eigene kleine Milchbank aufbaut, liegt auch an juristischen Unklarheiten. „In Deutschland ist nicht genau bestimmt, ob es sich bei Muttermilch um ein Lebensmittel, ein Arzneimittel oder eine Organspende handelt“, sagt Nadine Scholten, Versorgungsforscherin an der Uni Köln. Das führe dazu, dass Bundesländer unterschiedlich mit gespendeter Milch verfahren. In einigen muss sie wie Kuhmilch pasteurisiert werden – was die Wirksamkeit reduziert – in anderen kann sie roh verfüttert werden. Scholten und ihr Team haben deswegen ein juristisches Gutachten in Auftrag gegeben, das die Grundlage für einheitliche Regeln schaffen soll.

Gemeinsam mit Till Dresbach von der Uniklinik Bonn leitet Scholten ein großes Forschungsprojekt zum Thema Muttermilch für Frühgeborene. Bis 2024 läuft das Projekt mit dem Namen „Neo-Milk“ noch. Der Innovationsfonds der Bundesregierung fördert es mit 4,7 Millionen Euro.

„Man muss doch sehen können, wofür man’s macht“

Rechtssicherheit im Umgang mit Spenderinnenmilch ist aber nur ein kleiner Teil dessen, was sich das Forschungsprojekt zum Ziel gesetzt hat. Nach Ende der vierjährigen Studie soll der Weg dafür bereitet sein, dass irgendwann alle rund 10.500 Frühgeborene, die in Deutschland jedes Jahr mit einem Geburtsgewicht von unter 1.500 Gramm zur Welt kommen, mit Muttermilch versorgt werden können. Essenziell dafür ist zum einen ein flächendeckendes Netz von Humanmilchbanken, zum anderen die sogenannte strukturierte Stillförderung.

Damit die Milchbildung nach der Entbindung in Gang kommt, brauche es Nähe zum Kind, Ruhe, Wohlbefinden und Unterstützung beim Abpumpen, sagt Nadine Scholten. Erste Befragungen von Müttern, deren Kinder gleich nach der Geburt auf einer Neonatologie behandelt wurden, zeigen, dass diese Aspekte oft zu kurz kommen. Besonders der Umgang mit der Milchpumpe kann anfangs mühsam, frustrierend und – falsch angewendet – schmerzhaft sein. „Wir sehen an unseren Fragebögen, dass da oft wichtige Zeit am Anfang nicht genutzt, Abpumpen zu wenig thematisiert wird und vor allem der Hautkontakt zu den Kindern oft erst zu spät kommt.“

Förderlich wäre schon, das eigene Kind anschauen zu können, während die Pumpe arbeitet, doch auch das ist manchmal nicht möglich. Jessica Hübel sitzt die erste Zeit in einem eigens fürs Stillen eingerichteten Raum, „einer Art Abstellkammer“ mit unbequemen Plastikstühlen und weißen Trennwänden. „Ich habe mir dann Videos meiner Tochter auf dem Handy angeschaut“, sagt Hübel. „Man muss doch sehen können, wofür man’s macht.“

Die Forschenden von Neo-Milk haben im Rahmen der Studie auch medizinisches Personal befragt, und „generell können wir sagen, dass die Relevanz und Wichtigkeit der Versorgung mit Muttermilch gesehen wird“, sagt Scholten. Aber Stillförderung koste nun mal Zeit, oft sei das Personal knapp und Milchpulver nähre die Frühgeborenen eben auch. Dabei würden ja schon Kleinigkeiten im Umgang mit den Müttern helfen, beispielsweise regelmäßig nachzufragen, wie gut es klappe, ermutigende Worte an sie zu richten.

Handbücher, digitale Schulungen, Apps

Einige Schwangere wissen, dass ihr Kind voraussichtlich zu früh zur Welt kommt und befinden sich schon Tage oder Wochen vor der Geburt auf Station. „Diese Zeit könnte man gut nutzen, um das Thema Stillen und Muttermilch für Frühgeborene schon mal anzusprechen, gegebenenfalls Kolostrum zu gewinnen.“ Kolostrum ist die sogenannte Vormilch, die bei einigen Schwangeren auch schon vor der Geburt gebildet wird. Es handelt sich meist nur um winzige Mengen – doch die sind wertvoll. Kolostrum enthält besonders viele Antikörper, weiße Blutkörperchen, Vitamine, Mineralstoffe sowie Proteine. Viel zu oft ginge Kolostrum einfach verloren, sagt Scholten, dabei helfe dieser hochkonzentrierte Mix Frühgeborenen ganz besonders bei Immunabwehr und Verdauung.

Um Mit­ar­bei­te­r:in­nen auf Neonatologien für das Thema zu sensibilisieren, will das Neo-Milk-Team ein Handbuch herausbringen, das den aktuellen Stand der Wissenschaft zur Wirksamkeit von Muttermilch für Frühgeborene und stillfördernde Maßnahmen zusammenfasst. Außerdem wollen sie digitale Schulungen für das medizinische Personal konzipieren und eine App für Eltern entwickeln, die mit Videos erklärt, welche Tricks gegen Milchstau helfen, wie Abpumpen funktioniert und alle paar Stunden mit einer Push-Meldung daran erinnert.

Bestenfalls greife auf der Neonatalogie beides ineinander: frühzeitige Stillförderung und die Möglichkeit, Spendenmilch zu verwenden, wenn die eigene nicht nutzbar ist, auf sich warten lässt, man nicht stillen möchte oder nicht stillen kann. Die Zeit auf der Neonatologie kann für Eltern psychisch enorm belastend sein, und Stillen ist ein gesellschaftlich vorbelastetes Thema, das mit viel Druck verbunden ist. Indem gewährleistet wird, dass auf der Station Humanmilch zur Verfügung steht, die zur Entwicklungsstufe des eigenen Frühgeborenen passt und Wochen überbrücken kann, bis die Mutter selbst genug produziert, soll dieser Druck genommen werden.

Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Zum Ende des Projekts sollen bestenfalls bereits 15 neue Humanmilchbanken entstanden sein, die aktuell in 15 Kliniken getestet und evaluiert werden. Um den Kliniken Arbeit zu erleichtern, wollen die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen aus Bonn und Köln grundlegende Standards für Humanmilchbanken festlegen – und Neugründungen unterstützen. Damit eines Tages keine Milch mehr im Abfluss landet, die noch jemanden sattmachen könnte.

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