Verfassungsschutz und NSU: Zur Strafe befördert

Gab es in den Überwachungsbehörden harte Konsequenzen nach dem NSU-Desaster? Drei Verfassungsschützer wurden strafversetzt – 47 stiegen auf.

Wer hier rote Farbe und Beate Zschäpe sieht, kann beim VS nichts werden. Der nämlich sieht: nichts. Bild: dpa

BERLIN taz | Der Referatsleiter, Tarnname Lothar Lingen, fackelte nicht lange. Eine Woche nachdem der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) im November 2011 aufgeflogen war, ließ der verdiente Beamte aus der Abteilung Rechtsextremismus im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) den Schredder anwerfen: sieben hochsensible V-Mann-Akten landeten im Reißwolf.

Die Löschaktion bewog Behördenchef Heinz Fromm zum Rücktritt, an dem Inlandsgeheimdienst haftet seither ein Vertuschungsverdacht. Doch was wurde aus Verfassungsschützern, die wie Lingen die Aufklärung des NSU-Desasters sabotierten und den Auftrag des Amtes ins Gegenteil verkehrten?

Obwohl selbst konservative Politiker „knallharte Konsequenzen“ ankündigten, weigert sich die Bundesregierung nun, Nachfragen zu beantworten. In einer elfseitigen Stellungnahme, die der taz vorliegt, teilte das Bundesinnenministerium der Linksfraktion mit: Der einzelne Beamte beim Verfassungsschutz sei „hinsichtlich seiner Eignung, Befähigung und Leistung nicht Gegenstand parlamentarischer Kontrolle und öffentlicher Auseinandersetzung“. Aus dem Amtsdeutsch übersetzt: Ob und wie leitende Verfassungsschützer sanktioniert wurden, geht weder Bundestag noch Bürger etwas an.

Nach der Selbstenttarnung des NSU schrieb der Spiegel, in der Verfassungsschutzzentrale herrschten Zustände „wie im Krieg“. Doch die meisten der gut 2.700 Mitarbeiter scheinen glimpflich davon gekommen zu sein. Die personellen Konsequenzen lassen sich an einer Hand abzählen: „Insgesamt drei Personen wurden auf Anordnung der Amtsleitung umgesetzt bzw. zu einer anderen Behörde abgeordnet“, schreibt das Bundesinnenministerium.

„Das Schlimmste zu befürchten“

Zwar hätten insgesamt 54 Mitarbeiter die Abteilung Rechtsextremismus verlassen – aber „im Wesentlichen“ hätten sie sich erfolgreich wegbeworben. Gegen wie viele Beamte dienstrechtliche Maßnahmen eingeleitet wurden – dazu schweigt die Regierung mit Verweis auf das Beamtenrecht, das Informationen aus Personalakten schütze.

Die Innenexpertin der Linksfraktion, Martina Renner, zweifelt inzwischen am Reformwillen des Verfassungsschutzes. Die Antworten auf ihre Anfrage seien „ein erschütternder Beweis dafür, dass es keinerlei Fehlerkultur beim Bundesamt für Verfassungsschutz gibt“. Renner wirft der Behörde „Schaufensterpolitik“ vor.

Auch eine weitere Angabe irritiert sie: Laut Bundesinnenministerium wurden 47 Beamte der Abteilung Rechtsextremismus sogar noch befördert. „Wenn die Bilanz und das Ergebnis der vermeintlich neuen Fehlerkultur im BfV lediglich drei Disziplinarverfahren und ein zurückgetretener Präsident sind, dann ist das Schlimmste zu befürchten“, warnt Renner.

Absurde Konsequenz

Entsetzt reagieren auch Opfervertreter. Die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Angehörigen der NSU-Opfer, Barbara John, gehört wie Innenminister Thomas de Maizière der CDU an, doch sie sagt: „Diese Stellungnahme des Bundesinnenministeriums zieht mir die Schuhe aus.“ Das Ministerium weigere sich „berechtigte Fragen“ nach personellen Konsequenzen aus dem NSU-Desaster zu beantworten. Dieses Verhalten finde sie „außerordentlich traurig und beunruhigend“. Ausgerechnet Beamte in Behörden, die für die Sicherheit jedes Einzelnen sorgen sollten, seien offensichtlich „völlig immun gegen parlamentarische Kontrolle und öffentliche Kritik“. Der Verfassungsschutz wirke auf sie, „als würde er nur noch seine Sonderinteressen verteidigen und gar nicht mehr wissen, wozu er eigentlich da ist“.

Der Nebenklage-Anwalt, Sebastian Scharmer, spricht von „einer absurden Konsequenz aus dem NSU-Skandal“. Er vertritt Gamze Kubasik, deren Vater in Dortmund ermordet wurde. Die Kanzlerin habe ihr „lückenlose Aufklärung und Verantwortungsübernahme“ in die Hand versprochen. Doch nun dürften „genau die Menschen, die für die strukturell rassistischen Ermittlungen und die Vertuschung verantwortlich waren, weitestgehend ohne Konsequenzen weitermachen“. Ginge es nach Gamze Kubasik, sagt Scharmer, „säßen diese Verantwortlichen mit auf der Anklagebank“.

Doch sogar Referatsleiter Lother Lingen fiel offenbar weich. Laut Recherchen von SWR und Kölner Express wurde er auf eine leitende Funktion im Bundesverwaltungsamt versetzt – Referat „Ehrungen und Auszeichnungen“. Das Innenministerium wollte die Personalie weder bestätigen noch dementieren.

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Hier erfährst du mehr

Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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