Laissez-faire in Berlin: Ein richtiger Saftladen

Die „Is' mir egal“-Einstellung macht das Leben in Berlin schön. Leider ist es auch das politische Leitprinzip der Berliner Regierung.

Grashalme vor einem Gebäude

Berlin ist eine Stadt des Glaubens. So steht es im Bericht zum BER Foto: dpa

Berlin ist ein Saftladen. Ja, die Stadt ist toll und alle sind wahnsinnig locker, und man kann kiffend an zwei Polizisten vorbeilaufen oder als vollbärtiger Mann mit Kugelbauch und rosa Tutu durch die Straßen ziehen. Es ist herrlich. Jeder kann machen, was er will, parken, wo er will, und arbeiten, wann er will. So ist Berlin. Aber so ist eben auch die Berliner Landesregierung – voll locker, voll laissez-faire, voll gleichgültig.

Hätte die Hauptstadt einen Soundtrack, wäre es kein hipper Electrosound von Moderat oder eine Glam-Rock-Hymne von David Bowie, es wäre dieser „Is’ mir egal“-Song von Kazim Akboga aus dem Spot der Berliner Verkehrsbetriebe in Dauerschleife.

Da ist zum Beispiel der nicht mehr ganz so neue Berliner Flughafen BER. Die Kosten und die Verzögerungen des Baus werden immer unbegreiflicher, doch die Frage, wer dieses finanzielle Desaster zu verantworten hat, wurde bisher einfach lieber gar nicht beantwortet.

Diese Woche veröffentlichte der Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordneten­hauses den lange ersehnten Bericht zum Pannenflughafen. Auf Seite 402 heißt es darin erst vielversprechend demütig: „Angesichts des katastrophalen Projektverlaufs ist sich der Ausschuss bewusst, dass ein großes öffentliches Interesse an einer klaren Benennung von Ver­antwortlichen besteht.“ Dann aber: „Seriöserweise kann jedoch in einem derart komplexen Projekt nur von einer Verflechtung geteilter Verantwortlichkeiten gesprochen werden.“

Schuld ist also keiner oder jeder so ein bisschen. Seriöserweise. Wäre ein Grund zu lachen, wenn dieser Witz nicht allein bis 2015 einen „zusätzlichen Kapitalbedarf“ von 2,6 Milliarden Euro geschluckt hätte. Aber auch warum die Beteiligten beratungsresistent am Projekt festhielten, wird berlinplausibel erklärt: „Kollektiver Wirklichkeitsverlust“. Ernsthaft.

Weiter steht da, dass „Anzeichen für Fehlentwicklungen und teils alarmierende Warnungen“ systematisch ausgeblendet wurden, von einem Kollektiv, das „trotz aller kritischen Anzeichen den unbedingten Glauben an eine rechtzeitige Fertigstellung teilte“. Eine ziemlich kostspielige Art von Glaubensgemeinschaft, die sich Berlin da leistete.

Weil sie es können

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Das Schöne, total Berlinerische an der Sache ist aber, dass der Senat nun gar nicht erst in die Verlegenheit kommt, sich großartig Ausreden ausdenken zu müssen. Weil: Wissen Sie, was das Berliner Abgeordnetenhaus jetzt erst mal macht? Urlaub. Bis kurz vor der Parlamentswahl am 18. September ist Sommerpause. Entspannte elf Wochen lang. Weil sie es können.

Diese Woche traf sich der Hauptausschuss, der den Senat kontrolliert und für alle Haushaltsfragen zuständig ist, zum letzten Mal. Auf der Tagesordnung: 80 Themen im Eilverfahren. Sozusagen ein akuter Anfall von Regierung. Es ging dabei auch um die Finanzierung des Flughafens BER, die Neuvergabe der Stromkonzession und die Unterbringung von Flüchtlingen. Wobei: Der letzte Punkt wurde dann doch wieder verschoben. Es war vorher klar, dass das nicht alles in einer Sitzung geschafft werden kann. Klar war vorher aber auch schon, dass das die Regierung dieser Stadt nicht interessiert.

Eigentlich hätte es rund 200 Punkte abzuarbeiten gegeben, doch wie Torsten Schneider, der Geschäftsführer der SPD-Fraktion, der Berliner Zeitung gegenüber vorrechnete: „Wenn wir über jede Vorlage im Durchschnitt nur 17,5 Minuten debattieren würden, müssten wir 56 Stunden am Stück tagen.“

Was übrig blieb, wurde vertagt – darunter auch die Organisation der Bürgerämter. Bei denen funktioniert seit einem Einsparversuch des Senats vor zwei Jahren gar nichts mehr. In der Folge entstand ein lukrativer Schwarzmarkt für Wartemarken. Seit die dann abgeschafft wurden, kann man Kohle haben, soviel man will – Audienzen beim Amt sind nur noch mit Geduld zu haben.

Nach drei Monaten Wartezeit ist man dafür voller Dankbarkeit, wenn man endlich einen Termin hat, um seinen Umzug von einem Berliner Bezirk in den anderen zu melden. Ins umschwärmte Berghain zu kommen ist einfacher.

Beton fließt in die Wohnung

Und die BerlinerInnen? Die ertragen es. Sie ertragen die großen Katastrophen wie die kleinen Absurditäten. Die unerfindliche Sperrzone am Mehringplatz in Kreuzberg zum Beispiel. Alle, die in den letzten fünf Jahren hierher gezogen sind, können gar nicht wissen, wie es sich anfühlt, diesen kreisrunden Platz zu überqueren, denn seit 2011 ist er abgesperrt. Der U-Bahn-Tunnel sollte damals saniert werden. Was hier heute getan wird, weiß man nicht so richtig, denn seit geraumer Zeit steht hier einfach nur noch ein Zaun. Und letzte Woche wurden bei Bauarbeiten am Metropolenhaus am Jüdischen Museum mehrere Tonnen Betonmasse in eine bewohnte Wohnung im Nebenhaus fehlgeleitet.

Dabei ist die Wohnungsnot ohnehin so groß, dass sogar für ein Wohnklo mit Mülltonnenblick am Brandenburgrand, wo sich Fuchs und Neonazi Gute Nacht sagen, die Mieten steigen. Das berühmte „arm, aber sexy“ in den Innenbezirken können sich heute nur noch Leute leisten, die zwar „arm, aber sexy“ aussehen, es aber schon lange nicht mehr sind.

Der Stadt kommt diese Illusion natürlich total entgegen. Wo sonst reicht es, einmal im Monat die Straßenreinigung durchzuschicken, weil die Leute die Ratten vor der viel zu teuer gemieteten Wohnung als Zeichen der Realness verklären.

Radfahrer ist man in dieser Stadt besser auch nicht. Wer denkt, Gottes Wege seien unergründlich, der kennt die Berliner Radwege nicht. Fest steht: Es gibt sie. Nur wo fangen sie an, wo hören sie auf? Allzu oft an der Stoßstange irgendeiner Rostlaube, die aber niemand abschleppt, weil warum.

Um zu erreichen, was in anderen Städten Standard ist, musste sich in Berlin erst eine Initiative für ein neues Radgesetz gründen. Die will nun breitere und mehr Radwege. Die Kosten belaufen sich laut dieser Initiative auf 320 Millionen Euro, der Senat kommt auf mysteriöse zwei Milliarden. Das mit dem Rechnen war noch nie das hervorstechende Talent der Berliner Regierung.

Die Wahl ist sicher. Oder?

Dafür sei Berlin wenigstens sonst billig, heißt es immer. Aber wo ist denn dieses sonst? Klar, der Döner an der Ecke kostet nicht viel, aber wenn man sich ein Jahresticket für die Innenstadt kauft, blättert man satte 761 Euro hin. Um dann in der Bahn nur mit spitzen Fingern die klebrigen Haltegriffe anzufassen und bei der Suche nach barrierefreien Routen zu verzweifeln. Sogar im als schnöselig und überteuert geltenden Wien hat die rot-grüne Stadtregierung es geschafft, dass ein Jahresticket nur noch 365 Euro kostet. Für den Berliner Senat: das ist ein Euro pro Tag. Und in den Zügen klebt trotzdem nicht die Kotze von vorgestern.

Aber in Wien stehen auch an jeder Ecke Spender mit Beuteln für Hundekot. Und die werden sogar benutzt. Finanziert wird das naheliegenderweise mit den Einnahmen aus der Hundesteuer – 70 Euro jährlich beträgt die in Wien, 120 Euro in Berlin.

Der Flughafenchef Karsten Mühlenfeld will übrigens erst im Oktober den ganz, ganz neuen und jetzt wirklich ernst gemeinten Eröffnungstermin mitteilen. Hätte man mit den Fluglinien so abgesprochen. Praktisch auch, weil nach der Wahl.

Bei der übrigens auch nicht klar ist, ob sie ordnungsgemäß stattfinden kann. Weil die Drucker für die Wahlzettel angeblich zu alt sind oder die Software nicht richtig funktioniert, das weiß natürlich keiner so genau, aus unerfindlichen Gründen tauchen jedenfalls Verstorbene im Wahlverzeichnis auf – aber das nur am Rande.

Dazu, ob der Flughafen nun 2017 oder im Frühjahr 2018 eröffnet werden soll, sagte Mühlenfeld: „Am Ende ist es eigentlich egal.“ Es ist herrlich.

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