Nach fünf Monaten Gegenoffensive: „Pattsituation“ in der Ukraine

Der höchste General der Ukraine zieht eine schonungslose Bilanz der Offensiven zur Befreiung besetzter Gebiete. Aber es gibt auch Erfolge.

Ein ukrainischer Soldat geht mit Waffe durchs Gelände

Ein Soldat in eine verlassenen russischen Stellung beim befreiten Dorf Robotyne an der Front Foto: Stringer/reuters

BERLIN taz | Fünf Monate nach ihrem Beginn ist die Gegenoffensive der Ukraine zur Befreiung russisch besetzter Gebiete offenbar zum Stillstand gekommen. Oberkommandierender Walery Saluschny hat in der aktuellen Ausgabe der britischen Wochenzeitschrift Economist von einer „Pattsituation“ gesprochen. „Wie im Ersten Weltkrieg haben wir ein technologisches Niveau erreicht, das uns in eine Pattsituation bringt“, sagte der General. „Es wird höchstwahrscheinlich keinen tiefen und schönen Durchbruch geben“.

Präsident Wolodimir Selenski wies am Samstag den Begriff „Pattsituation“ zurück, aber bestätigte bei seiner Pressekonferenz mit der nach Kyjiw gereisten EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen: „Die Zeit ist verstrichen, die Menschen sind müde.“ Am Vortag, als Saluschnys Einschätzung publik wurde, hatte Selenski in seiner täglichen Botschaft erklärt: „Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Ukraine siegen wird.“

Man könnte auch, wie es Saluschny in einem eigenen Beitrag für den Economist getan hat, von einem „Übergang zum Stellungskrieg“ sprechen. Aber das ändert nichts daran, dass die Ukraine die Ziele nicht vollständig erreicht hat, mit denen sie am 4. Juni zum Angriff übergegangen war. Damals wollten die ukrainischen Streitkräfte im Süden des Landes die russischen Verteidigungslinien durchbrechen und in Richtung Asowsches Meer durchstoßen, um die russisch besetzte Krim von den russisch besetzten Teilen des Donbass zu trennen.

Eine Karte, die den Frontverlauif in der Ostukraine zeigt

Fünf Monate später beschränken sich die Rückeroberungen durch die Ukraine auf gut 360 Quadratkilometer, weniger als die halbe Fläche von Berlin. Die Hälfte davon erfolgte in den ersten vier Wochen, vom Rest fast alles bis Anfang September.

Keine Lufthoheit und endlose Minenfelder

Größere dauerhafte ukrainische Geländegewinne gab es lediglich an zwei Stellen, und nur bei Orichiw wurde die erste russische Verteidigungslinie komplett durchbrochen. Aber auch hier beschränkt sich der ukrainische Vormarsch auf elf Kilometer. An 95 Prozent der 1.000 Kilometer langen Frontlinie herrscht ohnehin Stillstand.

Es gibt dafür viele Gründe. Die Ukraine hat keine Lufthoheit an der Front, und es ist ein Ding der Unmöglichkeit, unter diesen Umständen gigantische Minenfelder zu überwinden. Sie sind bis zu 20 Kilometer tief, ihre Räumung gleicht einer Sisyphusarbeit, schreibt General Saluschny: „Abgesichert werden sie von Aufklärungsdrohnen, die unsere Minenräumer aufspüren und das Feuer auf sie richten. Bei erfolgreichen Minenfeldüberwindungen stellt der Feind Minenfelder schnell durch ferngesteuerte Systeme wieder her.“

General Walery Saluschny

„Wir sehen alles, was der Feind tut und er sieht alles, was wir tun“

Die Ukraine ihrerseits wehre russische Angriffe auf die gleiche Weise ab. „Dies führt dazu, dass die Offensivoperationen beider Parteien mit erheblichen Problemen und großen Verlusten an Material und Personal stattfinden.“

Das bedeutet nicht, dass die Ukraine nichts erreicht hätte. Russland hat bei der Abwehr ukrainischer Angriffe viel mehr Verluste erlitten als die Ukraine; normalerweise tut das der Angreifer. Die russischen Truppen mussten bereits den Großteil ihrer Reserven aus dem Hinterland mobilisieren.

Nur massiver Rüstungsnachschub aus Nordkorea hat einen breiteren Zusammenbruch der russischen Kapazitäten gestoppt. Nordkorea hat Russland innerhalb weniger Wochen mehr Munition geliefert als sämtliche EU-Staaten der Ukraine seit Jahresbeginn, trotz gegenteiliger Ankündigungen aus Brüssel.

Russische Angriffe stecken ebenfalls fest

Russland hat seinerseits zwei Offensiven gestartet, die aber ebenfalls nicht weit gekommen sind: im Sommer bei Kupiansk im nördlichsten Frontbereich und im Herbst bei Awdijiwka nordwestlich der russisch besetzten Millionenstadt Donezk. Insgesamt rund 100 Quadratkilometer hat die Ukraine in diesen Bereichen seit Juni an Russland verloren.

Die seit 10. Oktober währenden schweren Kämpfe rund um Awdijiwka gelten als die heftigsten seit der Schlacht um Bachmut im Frühjahr. Die New York Times schrieb vergangene Woche von der „vielleicht für Russland verlustreichsten Schlacht des Krieges“.

Vom Ziel, das seit 2014 als Frontstadt gegen Donezk befestigte Awdijiwka zu umzingeln, scheinen die russischen Angreifer weit entfernt. General Saluschny berichtet: „Am Tag, als ich da war, sah ich auf unseren Monitoren 140 russische Fahrzeuge in Flammen – innerhalb von vier Stunden zerstört, nachdem sie in Reichweite unserer Artillerie geraten waren.“

Der höchste ukrainische General zieht aus seinen Erfahrungen einen klaren Schluss: „Wir sehen alles, was der Feind tut und er sieht alles, was wir tun.“ Um aus dieser Lage auszubrechen und aus dem Stellungskrieg zurück in den Bewegungskrieg zu gelangen, brauche die Ukraine „Lufthoheit, viel bessere Kapazitäten zur elektronischen Kriegsführung und Artillerieortung, neue Technologie zur Minenüberwindung und die Fähigkeit, mehr Reserven zu mobilisieren und zu trainieren.“

Dazu kämen Veränderungen in der Kommandostruktur. Selenski verfügte am Samstag bereits Umbesetzungen an der Spitze der Streitkräfte.

Neue Offensivfront bei Cherson

Zusätzlich besteht kurzfristig die Option einer Ausweitung der Kampfzone. In den vergangenen Wochen gab es eine Reihe spektakulärer ukrainischer Raketenangriffe auf russische Marinestützpunkte auf der Krim und russische Luftwaffenstützpunkte tief hinter der Front, dank neuer Raketensysteme aus den USA und Großbritannien mit größerer Reichweite. Die Meereshoheit über das westliche Schwarze Meer und damit über die Exportrouten für ukrainisches Getreide hat Russland bereits verloren.

Aktuell zeichnet sich auch eine neue ukrainische Offensivfront im westlichsten Frontbereich bei Cherson ab. Verstärkt überqueren ukrainische Einheiten den Dnipro-Fluss. Derzeit haben sie sich im Ort Krynky festgesetzt, rund 35 Kilometer flussaufwärts von Cherson auf dem russisch besetzten Südufer des Dnipro.

Und nicht zuletzt setzt die Ukraine auf einen Ausbau der eigenen Rüstungsproduktion, um die Abhängigkeit von möglicherweise wankelmütigen westlichen Verbündeten zu verringern. Nach der Bildung eines Joint Ventures zwischen dem deutschen Rüstungshersteller Rheinmetall und dem staatlichen ukrainischen Rüstungskonzern Ukoroboronprom kündigte Außenminister Dmytro Kuleba bei einem Treffen mit Rheinmetall in Berlin am vergangenen Freitag einen Ausbau der Munitionsfertigung in der Ukraine an.

Am Sonntag berichteten ukrainische Medien über die Entwicklung ukrainischer Raketen mit 700 bis 1.000 Kilometern Reichweite. Die Ukraine will außerdem ihre eigene Drohnenproduktion erweitern.

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