Nachruf Freejazz-Pionier Peter Brötzmann: Auflösung der Gestaltungsprinzipien

Der Saxofonist Peter Brötzmann ist tot. Freejazz hat er hierzulande als eigenständige Kunstform gegen große Widerstände etabliert. Eine Verneigung.

Peter Brötzmann spielt Saxophon, Archivaufnahme

Peter Brötzman am 5. November 1995 beim Jazzfest in Berlin Foto: Heinrich/Brigani-Art/imago

Peter Brötzmann ist tot. Das zuletzt Befürchtete und unendlich Traurige ist eingetreten, der Initiator, kompromisslose Erneuerer und große Lyriker des europäischen Free Jazz ist – und man möchte es nicht, kann es nicht glauben – verstummt. Noch vor wenigen Tagen sagte Peter Brötzmann im Gespräch, er müsse sein Leben neu denken, da er aus gesundheitlichen Gründen absehbar nicht mehr in der Lage sei, zu spielen.

Und seine Bilder, Skulpturen, Zeichnungen und Holzschnitte seien immer in Wechselwirkung zur Musik entstanden. Das eine ohne das andere: undenkbar für den, der den freien Jazz in Deutschland und Europa, zuletzt mit seinem „Chicago Tentet“ auch in den USA geprägt hat. Seine letzten Auftritte waren im November 2022 auf dem Berliner JazzFest und im Januar eine dreitägige Konzertreihe im Londoner Café Oto.

Geboren 1941 in Remscheid, spielte er als Autodidakt Klarinette und Saxofon in der Schule und in diversen Dixieland-Bands, bevor er mit 17 Jahren an die Werkkunstschule nach Wuppertal ging und in der Galerie Parnass Assistent des Fluxus-Künstlers Nam June Paik wurde. Prägend war auch die Begegnung mit dem US-Trompeter Don Cherry, der Brötzmann den Spitznamen „Machine Gun“ gab, Titel seines gleichnamigen Albums von 1968, der ersten und bis heute bahnbrechendsten Aufnahme des europäischen Free Jazz.

Fliegende Bierdosen

Cherry hatte Brötzmann 1966 eingeladen, mit seinem Quintett im Pariser Jazzclub „Le Chat Qui Pêche“ zu spielen. Im gleichen Jahr tourte er mit dem Ensemble von Carla Bley und Mike Mantler und trat beim Deutschen Jazz Festival in Frankfurt auf. Schon nach wenigen Minuten wurde der Stecker gezogen, es flogen Bierdosen. Trotzdem spielte das Trio mit Peter Kowald und Pierre Courbois sein Konzert zu Ende. Brötzmann erinnerte sich, es sei hier nicht nur um eine zaghafte Ausweitung traditioneller Gestaltungsprinzipien gegangen, sondern um deren Auflösung.

Ende 1966 gründete er gemeinsam mit Kowald die Zeitschrift „SOUNDS – Die Zeitschrift für neuen Jazz“ und die „New Jazz Artists Guild N.J.A.G.“, um unabhängig von Musikkonzernen und Konzertagenturen zu sein. Seine beiden ersten Aufnahmen „For Adolphe Sax“ 1967 und „Machine Gun“ 1968 erschienen auf dem eigenen Label „BRÖ“.

1967 hatte Brötzmann für einen weiteren Auftritt auf dem Deutschen Jazzfestival in Frankfurt die „Machine Gun Band“ gegründet, ein Nonett aus europäischen Musikern wie dem holländischen Schlagzeuger Han Bennink und dem englischen Saxofonisten Evan Parker.

Angelehnt an Lionel Hamptons Bigband

Angelehnt an Lionel Hamptons Bigband mit vier Tenoristen, zwei Drummern, zwei Kontrabassisten und einem Pianisten. „Machine Gun“ veränderte die Jazz-Wahrnehmung grundlegend und spiegelte den politischen Aufruhr vor dem Hintergrund der Nichtaufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland, dem Vietnamkrieg und der Bürgerrechtsbewegung in den USA. 1968 sagte Brötzmann dem SPIEGEL „Eine brutale Gesellschaft, die Biafra und Vietnam zulässt, provoziert natürlich auch eine brutale Musik“.

1968 war er Mit-Initiator des Total Music Meetings als Gegenfestival zu den Berliner Jazztagen, und gründete 1969, gemeinsam mit Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach und Jost Gebers, die Plattenfirma FMP – Free Music Production, die in den 1970er und 1980er Jahren maßgeblich vor allem die europäische und internationale Freie Improvisation dokumentierte. Mit Keiji Haino und im Trio „Full Blast“ spielte er Heavy Metal, 1997 gründete er sein bis zuletzt bestehendes, frei improvisierendes, „Chicago Tentet“.

Peter Brötzmann hinterlässt über einhundert Aufnahmen, vom Solo bis zum Großensemble. Er sagte, zu Beginn seien es Paik in der bildenden Kunst und Don Cherry in der Musik gewesen, die ihm gezeigt hätten, dass es keine Grenzen gibt und nichts, was man nicht kann oder nicht darf. Zuletzt war er es, der dieses Wissen weitergegeben hat. Du wirst fehlen Peter!

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.