Nachruf auf Wolfgang Rosenkötter: Ein Heim-Überlebender ist tot

Der Sozialwissenschaftler erlitt selber als Junge üble Methoden im Heim. Nach seinen Berichten entstand der wichtige Aufklärungs-Film Freistatt.

Ein Mann im hellblauen Hemd steht vor einer Bücherwand

Kämpfte viele Jahre für die Rechte von Heimkindern: Sozialwissenschaftler Wolfgang Rosenkötter Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Der Hamburger Sozialwissenschaftler Wolfgang Rosenkötter ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Er hatte als Jugendlicher die brutalen Methoden des Heims „Freistatt“ der diakonischen Stiftung Bethel durchlitten. Seine Geschichte war Vorlage für den Film „Freistatt“, der 2015 in die Kinos kam und wichtiger Meilenstein der Aufklärung über die Nachkriegs-Heimerziehung ist.

„Ich hatte ständig Angst, vom ersten bis zum letzten Tag“, sagte Rosenkötter 2018 im taz-Interview über seine 17 Monate in dem Heim. 40 der Jugendlichen schliefen in einem Saal, besaßen nichts außer Nachthemd, Zahnbürste und Arbeitskleidung und mussten sechs Tage die Woche ins Moor, zum Torfstechen. Sie wurden mit Stöcken geschlagen, zum Entengang gezwungen, zur Strafe in eine Zelle gesperrt und dort – so im Film gezeigt – zeitweise mit nacktem Oberkörper in Seile gehängt. Oder es gab als Strafe kein Essen. „Das war ganz schlimm. Wir mussten ja sechs Tage hart im Moor arbeiten.“

Rosenkötter hatte diese Erfahrungen fast 40 Jahre verdrängt, sprach nicht mal mit der eigenen Familie darüber. Bis 2005 das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski erschien und ausgerechnet in Freistatt eine Lesung geplant war. „Drei Wochen lang hatte ich Bauchschmerz und schlaflose Nächte, dann rang ich mich durch, hinzufahren“, sagte er.

Nach dem Schweigen begann sein neues Leben

Zu dem, was dann begann, sagte Rosenkötter später: „Seit 2006 lebe ich mein drittes Leben. Es ist das beste bisher.“ Er hatte ursprünglich Kranken- und Altenpflege gelernt und bereits studiert. Nun engagierte er sich auf Einladung des Leiters von Freistatt als Vertrauensperson für die heutigen Kinder. Und er organisierte Führungen durch sein früheres Heim, das in kleiner Form noch existierte und sich seiner Vergangenheit stellte.

Er machte eine Therapie. Und schließlich erzählte er Regisseur Marc Brummund seine Geschichte, traf ihn dafür regelmäßig. Seit der Film erschienen ist, zeigte er ihn auf Vorträgen und in Seminaren. Das sei auch eine Therapie, sagte er. „Es ist für mich eine Mission, die Geschichte der schwarzen Pädagogik zu erzählen.“

Rosenkötter organisierte 2018 mit Timm Kunstreich das Heimtribunal „Dressur zur Mündigkeit“, in dem auch aktuelle Missstände zur Sprache kamen. Er kämpfe mit für eine Entschädigung der Heimkinder der Nachkriegszeit, sagt aber, man habe sich bei 800.000 Betroffenen mit einem Fonds von 120 Millionen Euro mit zu wenig abspeisen lassen.

Er arbeitete mit im „Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung“ und forderte Entschädigung für die jüngeren Opfer der Heimgeschichte, vor allen der Haasenburg-Heime. „Wenn der politische Wille da ist, geht das“, sagte er. Es sei Kärrnerarbeit, damit müsse man den Politikern „ständig auf den Geist gehen“.

Seit 2015 engagierte er sich zudem für die Ombudsstelle für Kinder- und Jugendhilfe Niedersachsen (Berni), deren Vereinsvorsitzender er zuletzt war. Die Stelle erhält erst jetzt staatliches Geld. Rosenkötter hätte noch im Januar die Büros besichtigt und die Fachkräfte ausgesucht, berichtet sein Mitstreiter Jürgen Wittkötter. Der Tod seines Freundes sei am 19. Januar unerwartet gekommen. Die Trauerfeier findet im engen Familienkreis statt, aber Berni hat für alle, die sich noch von ihm verabschieden wollen, eine Gedenkseite im Netz eingerichtet. Kaija Kutter

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