Neue Bücher über Kraftwerk: Auf der Autobahn

Zwei neue Bücher widmen sich den Elektronikpionieren Kraftwerk: Eine Liebeserklärung eines Fans und eine musikologische Dissertation eines Musikers.

Im Hintergrund das blaue Autobahnzeichen, im Vordergrund die vier Bandmitglieder von Kraftwerk

Kraftwerk spielen „Autobahn“ bei einem Konzert im dänischen Kopenhagen, 2015 Foto: Gonzales Photo/imago

Zwei neue Bücher über Kraftwerk. Muss das sein? Gibt es doch genug Lesestoff über die Erfinder der „industriellen Volksmusik“: Musikpresse und Feuilleton haben die Düsseldorfer Elektronikpioniere um Ralf Hütter und Florian Schneider längst zur bedeutendsten Band aus Deutschland verklärt. Grundfalsch ist das nicht. Denn über Scooter und die Scorpions schweigen wir lieber, und von Rammstein sowieso.

Die Bücher, mit denen sich Jan Reetze und Carsten ­Brocker dem Phänomen Kraftwerk nähern, könnten kaum unterschiedlicher sein: die Liebeserklärung eines langjährigen Fans einerseits und die musikologische Dissertation eines professionellen Musikers andererseits.

Jan Reetze: „Die Geschichte von Kraftwerks 'Autobahn’. Eine Liebeserklärung an ein 50 Jahre altes Album“. Halvmall Verlag, Bremen 2024, 156 Seiten, 18 Euro.

Carsten Brocker: „Kraftwerk. Die Mensch-Maschine: ­Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition“. Edition Text & Kritik, München 2023, 450 Seiten, 59 Euro.

Hütter/Schneider haben mit ihrem Album „Autobahn“ Popmusik revolutioniert und die globale Entwicklung elektronischer Musik maßgeblich geprägt. Kraftwerk machten als erste Mensch-Maschinen-Musik. Sie stylten sich als Roboter und ersetzten Gesang durch synthetische Vocals. Von Daft Punk bis Detroit Techno, von HipHop bis K-Pop sind die kompositorischen Ideen, künstlerischen Konzepte und technischen Lösungen, die Kraftwerk in ihrem Kling-Klang-Studio ausheckten, unverzichtbare Bestandteile der DNA von Popmusik geworden. So lautet das vorherrschende Narrativ.

Das enthusiastische Buch wirkt ansteckend

Wie Jan Reetze in seinem Buch „Die Geschichte von Kraftwerks ‚Autobahn‘. Eine Liebeserklärung an ein 50 Jahre altes Album“ erläutert, darf das Kon­zept­album von 1974 als Keimzelle der Idee einer elektronischen Popmusik betrachten werden. Reetzes Hommage ist mit der passionierten Verve eines Fans geschrieben, der sich ­daran erinnern kann, wie er als 17-jähriger Teenager das ­Album kaufte. Unvermeidlich ist sein Buch in weiten ­Teilen eine sich an Alters­genossen richtende Erinnerung an die Musikszene der 1970er.

Da Reetze die Frühphase von der Gründung Kraftwerks im Jahr 1970 bis zur Veröffentlichung von „Autobahn“ aufarbeitet, kommt er erst in der Buchmitte auf das Album zu sprechen. Musikliebhaber, die wenig Ahnung von Kraftwerk haben, werden es ihm danken. Fans werden seine ausführliche Analyse des Albums schätzen. Aus vielerlei Quellen hat Reetze alles Verfügbare zu „Autobahn“ zusammengetragen. Schade nur, dass er kein neues Originalmaterial recherchieren konnte und die akademischen Publikationen zu Kraftwerk ignoriert.

Doch das Versprechen im Buchtitel, eine „Liebeserklärung“ zu liefern, erfüllt sein Bändchen mustergültig: Das Album, so Reetze, ist „eine besondere Platte“, der es gelang, „fünfzig Jahre lang präsent zu bleiben“, weshalb sie „zu jenen Platten gehört, die alle Stürme überlebt haben“ und bis heute so „frisch wie eh und je klingt“. Sein enthusiastisches Buch wirkt ansteckend, das epochale Album mit dem neugewonnenen Wissen erneut aufzulegen. Mehr kann man von Musikjournalismus nicht erwarten.

Im hintergrund drei Männer mit langen Haaren, im Vordergrund elektronische Musikinstrumente und Keyboards

Ralf Hütter, Florian Schneider und Emil Schult in ihrem Studio in Düsseldorf im Februar 1973 Foto: Brigitte Hellgoth/akg/picture alliance

Sie verlassen sich zu oft auf Mythen

Auch in der Kulturwissenschaft ist Kraftwerk lange schon ein Thema. Dass das, was als Popmusik-Forschung firmiert, oft auf tönernen Füßen ruht, wird aber gern unterschlagen. Allzu treuherzig verlassen sich viele Geisteswissenschaftler auf das, was sie im Musikjournalismus vorfinden, also die Mythen, interkulturellen Missverständnisse und gezielten Stilisierungen, die Kraftwerk augenzwinkernd in die Welt gesetzt haben. Musikologische Grundkenntnisse besitzen sie meist kaum und haben erst recht keine Ahnung von dem, was bei Kraftwerk das Wichtigste ist: die Musik-Maschinen.

Doch damit ist nun Schluss dank „Kraftwerk. Die Mensch-Maschine: Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition“. Carsten Brocker, seit 2014 als Keyboarder Mitglied der Münsteraner Synthieband Alphaville, war noch keine zehn Jahre alt, als die Westfalen 1984 mit „Big in Japan“ und „Forever Young“ weltweite Synthie­pop­hits landen konnten. Als Praktiker vermag er zu erläutern, wie sich das Besondere des Kraftwerk-Sounds entwickelte: Als Wechselwirkung zwischen einer maschinell-minimalistischen Ästhetik und dem jeweils technisch verfügbaren Instrumentarium vom Synthesizer über Sequenzer bis zum Computer und der neuesten Virtualisierungs-Software. Das wird zwar teilweise in einem opaken Fachchinesisch verhandelt, doch ist das Buch auch für musikologische Laien durchaus lesbar.

Sie bedienten sich bei Schlager und Klassik

Reihenweise entlarvt ­Brocker viele Mythen, die sich um Kraftwerk ranken. So räumt er radikal auf mit den zahlreichen, vorsichtig formuliert: Unwahrheiten, die Hütter und Schneider in Interviews verbreitet haben. Ebenso entwirrt er fachkundig, welche musikalische Leistungen auf Kraftwerk-Alben eher epigonal und welche tatsächlich revolutionär waren.

Brocker diagnostiziert produktionstechnische Übereinstimmungen zwischen Kraftwerk und anderen Krautrock-Bands, die viele Statements von Hütter über das Alleinstellungsmerkmal Kraftwerks als PR entlarven. Besonders interessant wird es da, wo Brocker stillschweigende Übernahmen von Melodien aus Schlager oder Klassik für Kraftwerk-Stücke aufdeckt.

Auch die Behauptung, dass „Computerwelt“ von 1981 das letzte bedeutende Album der Düsseldorfer Band sei, gehört zu den Klischees, mit denen ­Brocker aufräumt. Seine Analysen der „Expo 2000“-EP (1999) und des letzten Studioalbums, „Tour de France“ (2003) arbeiten heraus, worin die „ungeheuer lebendige Klangkomplexität“ dieser Spätwerke liegt.

Mal innovativ, mal aufholend

Aber ist das nicht nur für ­eingefleischte Kraftwerk-Fans von Belang? Brockers Studie untersucht zwei zentrale Fragen, die relevant sind für alle, die sich für elektronische Musik interessieren: Inwieweit kann man Kraftwerk tatsächlich als Begründer der elektronischen Popmusik verstehen? Wären afroamerikanische Stile wie Electro, House und Techno ohne Kraftwerks Vorarbeiten möglich gewesen? Bisher waren zu diesen Streitfragen nur einseitige Geschmacksurteile, Fanmeinungen oder Schutzbehauptungen zu lesen. Brockers Studie liefert nun eine differenzierte, wissenschaftlich untermauerte Antwort.

Kraftwerk steht demnach für verschiedene Phasen der Musikproduktion, die mal innovativ, mal aufholend waren. „Einfluss“ wiederum ist ein dialektischer transnationaler Feedback-Prozess, der sich dagegen sperrt, auf einfache Formeln gebracht zu werden: Kraftwerk wurden an verschiedenen Orten auf unterschiedliche Weise rezipiert.

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