Neuer Roman von Arnold Stadler: Mit Silberglanz nach Ithaka

Zwischen Odysseus-Feier und Greta-Thunberg-Unbehagen: Arnold Stadlers neuer Roman nimmt die Figur des alten weißen Mannes auf die Schippe.

Ein schmaler Inselstreifen mit einer Strraße von oben aufgenommen

Die Insel Lefkada, auf der womöglich schon Odysseus wohnte und die Stadlers Held zur Zuflucht wird Foto: A. Tamboly/imago

Es ist ein Gelaber grenzenlosen Ausmaßes: über politische Korrektheit, die Ersetzung von Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll durch Laktoseintoleranz und Helene Fischer, die gesellschaftliche Abschiebung des Todes in den Krimi, die Umdeklarierung des Menschen zum Verbraucher, den Darwinismus im Sport, Globalisierungs- und Fortschrittswahn, die vermeintliche Allmacht der Virologen und natürlich die Rhetorik der Waffenlieferungen an die Ukraine, die nur noch aus Wendungen wie „Druck machen“ und „muss jetzt liefern“ bestünde. Und, und, und. Einatmen, Ausatmen.

Würde der 1954 in Meßkirch geborene Arnold Stadler in seinem neuen Prosatext nicht mehrfach betonen, dass er eine Romanfigur sei, könnte man den Reigen aus Binsen und Halbgarem glatt für ein Spätwerk halten, das sich glatt selbst überlebt hat.

Zumal der Büchner-Preisträger auch genau mit diesem Klischee spielt, muss er sich doch auf einer Lesung im „Event-Hotspot“ Sayn von Be­su­che­r*in­nen anhören, nichts anderes als „das reinste weiße Altmännergeschwätz“ zum Besten zu geben. Und so bemerkt der Erzähler dieses stream of consciousness: „Ich war nun zu jenem bösen alten weißen Mann geworden, der für alles verantwortlich war.“

Liest man all dieses Selbstmitleid und all die damit verbundenen Klagen über eine ach so erschreckende Moderne erst einmal unter den Vorzeichen der Ironie, fällt das anfängliche Lektüreurteil hingegen ganz anders aus. Dann handelt es sich bei „Irgendwo. Aber am Meer“ um ein konzentriertes Porträt eines „Silberglanz“-Haarshampoo-Trägers, der sowohl der Zeit, in der er geradezu darbt, als auch sich selbst fremd geworden ist.

Arnold Stadler: „Irgendwo. Aber am Meer“. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2023. 224 Seiten, 24 Euro

Nachdem er also die Schmähungen in der rheinland-pfälzischen Kleinstadt über sich ergehen hat lassen, steht der Entschluss zu einer hoffentlich erlösenden Sehnsuchtsreise fest. Auf gen Ithaka, lautet die Devise.

Lefkada, die Trauminsel

Wie schon in seinem fabelhaften Roman aus dem Jahr 2021 „Am siebten Tag flog ich zurück“, der vor allem auf Reflexionen des Protagonisten im Angesicht des Kilimandscharos basiert, erweist sich Stadlers aktuelles Alter Ego, sobald es auf dem Eiland Lefkada angekommen ist, als Fernschwärmer. Er schaut und bewundert eigentliche die Trauminsel, ohne sie selbst zu besuchen. Aus gutem Grund: Denn der faszinierende Ort soll Chiffre für eine unabschließbare Ich-Suche bleiben, stellte er doch einst schon für Odysseus den Heimathafen dar.

Neben dessen Irrfahrt flicht Stadler zahlreiche andere Fäden in die Erzählung ein. So etwa immer wieder die Ozeanüberquerung Greta Thunbergs auf einem Boot nach New York, wodurch der Vielreiseschriftsteller erneut auch den Klimawandel als zentrales Thema seiner ­letzten Texte in unser Bewusstsein zu holen vermag. Vergleichbar mit einem Meeresstrom geben diese beiden narrativen Stränge dem oberflächlichen „Leben […] [ohne] Plot“ doch eine Struktur.

Zudem wird sie noch von dezent im Roman verstreuten biblischen Motiven gefestigt. Dass nämlich das anfängliche Lesungsdesaster gerade auf den Himmelfahrtstag fällt, dürfte kein Zufall sein. Denn mit der sich daran anschließenden Tour d’horizon verbindet der Protagonist zunehmend metaphysische Fragen über das Menschsein, die Ewigkeit und das Jenseits. Ist Ithaka demnach nur ein Symbol für das lediglich verlockende Himmelreich, gar Paradies?

Es scheint so, betreten wird er es trotz Suizidgedanken noch nicht. Stattdessen steht am Ende für den Protagonisten fest, dass er zurückkehren wird. Das titelgebende „Irgendwo“ hat ihm somit wieder zur Orientierung verholfen, und zwar in einer allzu chaotischen Epoche.

Geballte Wucht der Krisen

Schließlich äußert sich auch darin eine Ambition des Buches: uns aller Eindruck von einer zerfasernden Gegenwart einzufangen, die uns mit Kriegen, Umweltkatastrophen und Elend überfordert. Stadler konfrontiert die Le­se­r*in­nen ungefiltert mit der geballten Wucht der unzähligen Krisennachrichten. Dass der Schriftsteller dafür eine prosaische, aus- und abschweifende Form gefunden hat, trägt dieser Darbietungsweise voll und ganz Rechnung.

Während der Erzähler derweil die Zielstrebigkeit der Klimaaktivistin Thunberg in einer Mixtur aus Sarkasmus und Bewunderung betrachtet, kommt er selbst einer Neuauflage des Eichendorff’schen Taugenichts gleich und gibt im negativen Umkehrschluss zu erkennen: Mit romantischer Träumerei lässt sich die ökologische Katastrophe nicht verhindern.

Wir haben es also mit einem doppelbödigen und ziemlich intelligenten Entwurf zu tun, der eben nicht allein Literatur bleiben will und soll. Alles andere entspräche aus Stadlers Sicht wohl nur wohlfeilem L’art pour l’art.

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