Neuer Roman von Thomas Melle: Gegen die innere Leere

Thomas Melles Roman „Das leichte Leben“ analysiert die narzisstische Medien- und Kulturszene. Dabei arbeitet er raffiniert mit Schockeffekten.

Hände halten Sekt und Schnittchen

Keine Gesellschaftskritik im klassischen Sinn verübt Thomas Melle in seinem Roman Foto: Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus

Dieser Roman geht in die Vollen. Er gehört sicher zu den aufregendsten, ambitioniertesten und literarisch bewusstesten der letzten Zeit. Aber gleichzeitig geht er ein immenses Risiko ein: Er erreicht einen Punkt, an dem die Realität extrem wird und wehtut, vor allem für die in ihren eigenen Bezügen und Netzen lebenden Akteure der Medien- und Kulturszene.

Unlängst sah man ein Foto, auf dem sich die ehemalige Intendantin des RBB als eine Art Gangsterbraut und Bildschirm-Vamp inszeniert, und genau diese Sphäre hat Thomas Melle mit seinem Buch „Das leichte Leben“ im Visier. Er geht aber noch weit darüber hinaus und schafft eine Art Hyperrealität, er durchdringt das sich verselbstständigende und leerlaufende Leben der happy few im urbanen Krea­tivmilieu und arbeitet mit kalkulierten Schockeffekten.

Kathrin und Jan, beide etwa Mitte vierzig, sind seit Beginn der nuller Jahre ein Paar. Und mehr noch: Sie waren, wie es heißt, damals in der Stadt „das Paar der Stunde“, zogen durch die Clubs, putschten sich mit verschiedensten Drogen auf und standen für Glamour. Jan machte als Redakteur und Manager Karriere im größten kommerziellen Fernsehsender, und Kathrin galt als eine herausragende Romanautorin.

Mit ihrem Debüt „Nesthäkchenkreuze“ hatte sie einen sensationellen Erfolg und brachte das einflussreichste Nachrichtenmagazin zu hymnischen boulevardesken Jubelschlenkern.

Lebenskrise eines ehemaligen Szenepaars

Doch schon der Titel ihres Bestsellerromans lässt ahnen, dass der Autor Thomas Melle da über mehrere Banden spielt, die in den letzten Jahren grassierenden Debütantinnenromane solchen Typs karikiert er wie nebenbei. Schon kurz danach, bei ihrem zweiten Roman, wird Kathrin ihr Starruhm zum Verhängnis, man zahlt es ihr branchenüblich heim. Sie verschwindet in der Versenkung, sattelt um auf Lehrerin und unterstützt erst mal als „echte, liebende Ehefrau“ ihren Mann.

Jetzt, zwanzig Jahre später, befinden sich beide in einer Lebenskrise. Jan ist stellvertretender Chefredakteur einer Boulevardsendung und wird, als der Moderator kurzfristig ausfällt, von der Senderspitze selbst zum Anchorman befördert – er ist damit eine öffentlich bekannte Figur, aber das macht die Sache nicht besser.

Thomas Melle: „Das leichte Leben“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 343 Seiten, 24 Euro

Beide, Kathrin und Jan, spüren eine verheerende innere Leere. Immer noch steht ihnen das „leichte Leben“ vor Augen, das sie in ihrer großen Zeit für sich proklamierten, „nie sollte es schwer und spießig werden“, sie waren ein Szenepaar, in „Strobolicht und Donnerbässen und Brutalobeats, im Strom der immer gleichen und doch immer neuen Nacht“. Jetzt sind sie auf sich selbst zurückgeworfen und können damit nicht umgehen.

Und damit kommt eine Ebene ins Spiel, mit der dieser Roman provoziert und die gewohnten literarischen Übereinkünfte sprengt. Was bleibt, ist der Körper. Und zwar nicht im Sex zwischen den Ehepartnern, der funktioniert schon länger nicht mehr richtig. Kathrin sucht gleich zu Beginn des Romans einen ultimativen Kick, sie geht zu einer Sexparty, bei der auf extrem künstliche, hektische, abgespaltene Weise jeder über jeden maskiert herfällt.

Sexszenen aus einem zoologischen Blickwinkel

Es ist natürlich nicht die „entgrenzende Ekstase“, die sie sich versprochen hat, und doch: das „Tiersein“, das „Dingsein“, das „Phantasma einer restlosen Ano­nymität“ erregt sie. Sie weiß, es ist nur „ein langweiliger Exzess der dekadenten Gentrifizierung“ in einer „schnöden, schönen Eigentumswohnung“, es ist kaputt und irgendwie auch erbärmlich – aber genau das scheint sie zu brauchen.

Sexszenen spielen in diesem Roman immer wieder eine Rolle, und es fällt auf, wie Thomas Melle sie schreibt. Sie haben nichts Voyeuristisches oder Pornografisches und schon gar nichts Moralisches, am ehesten künden sie von einer Art interessiertem zoologischen Blick. Für Melles Figuren ist der Sex das Einzige, was sie noch umtreibt.

Der Roman ist formal ­entsprechend konstruiert. Es sind kurze Abschnitte, schnelle Schnitte, prägnante Szenen, wie in ­einer der gängigen ­profes­sionell stili­­sier­ten Fernseh­serien. Und dazu passt auch der krimiähnli­che Nebenstrang, in dem Jan von seiner Erziehung in einem katho­lischen Internat eingeholt wird: Ein ­pädophiler Pater hat damals ­anzügliche Fotos seiner Zöglinge gemacht, und jemand erpresst den Medienstar­ Jan nun damit.

Melles Roman hat mit einer Gesellschaftskritik im klassischen Sinn nicht viel zu tun, aber er zeigt radikal und direkt, ohne jegliche Didaktik oder Wertung, die Abgründe unter einer glitzernden Oberfläche.

Vermeidung von Endzeitstimmung und Destruktion

Für Kathrin wird der jugendliche, rätselhafte und verführerische Freund ihrer Tochter, Keanu, schließlich zur gefährlichsten Versuchung. Und es ist frappierend, dass bei den stilistischen Gratwanderungen dieser Passagen keine Klischees oder Kolportageelemente auftauchen. Melles meist einfache und klare Sätze sind voller irisierender Effekte.

Kathrin wie Jan werden psychologisch durchaus differenziert gezeichnet, es sind Leute, wie man sie auf Vernissagen oder Premierenpartys trifft und die in ihrem Habitus und in ihrem Kommunikationsverhalten sofort dazugehören.

Doch unvermittelt steht nebeneinander, wie rational, sozial engagiert und politisch wach Kathrin vor ihrer Schulklasse spricht, und wie sie sich gleichzeitig der merkwürdigen erotischen Anziehung, die von dem schönen Keanu ausgeht, nicht entziehen kann. Die Dialoge zwischen Jan und seinem Schulfreund Malte in der Kneipe wirken echt und pointiert, auf cool gepolte Männer, die versuchen, perfekt ihre Rolle zu spielen. Und wie Keanu bei seinem ersten Sex mit einem gleichaltrigen Mädchen die Porno­szenen, die er aus dem Internet kennt, in die Quere kommen – das ist glänzend inszeniert.

Irritierend ist bei alldem nur der Schluss. Die Talfahrt von Kathrin und Jan wird in all ihren Windungen und Kurven hautnah vor Augen geführt, in sorgsam ausbalancierten Sequenzen, mit analytischer Schärfe. Der Roman steuert stimmig und mit vollem Elan auf eine Tabula rasa zu. Doch ein wie auch immer ausgestattetes offenes Ende, wie es in der Luft läge, wollte der Autor anscheinend vermeiden und vor allem wohl den Eindruck völliger Endzeitstimmung und Destruktion.

Vielleicht hat es etwas mit der Plotlastigkeit zu tun, die das Theater weitaus mehr verlangt als ein Roman – denselben Stoff hat Thomas Melle auch schon als Theaterstück verarbeitet: Am Ende leuchtet in „Das leichte Leben“ etwas auf, was mehr an Hollywood als an Berlin-Mitte erinnert.

Für Kathrin scheint es, nach der einzigen sentimentalen Szene des gesamten Textes, die in Venedig spielt, einen Neuanfang geben zu können. Doch in seinem abendrotfarbenen Licht steht er in einem unauflösbaren Widerspruch zur ästhetischen Wucht des Romans. Die aber bleibt, und damit lässt Thomas Melle die übliche Saisonware weit hinter sich.

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