Neues Album von Girl in Red: Nicht mehr nur rot

Girl in Red ist das queere Postergirl der Generation Z. Mit ihrem neuen Album diversifiziert die norwegische Indiemusikerin Sound und Textbotschaften.

Girl in Red lehnt an einer Wand

Will nicht mehr nur die melancholische Singer-Songwriterin sein: Girl in Red Foto: Heather Hazzan

Marie Ulven liegt im Bett. Kurz muss die norwegische Künstlerin überlegen, in welcher Stadt sie sich befindet. „Ich bin gerade in … Tennessee, hier laufen momentan Proben für meine aktuelle Tournee“, erklärt die 25-Jährige.

Die junge Frau wirkt ein bisschen verschlafen, den beigefarbenen Hoodie hat sie sich über den Kopf gezogen, kurz schwenkt sie ihre Kamera durch das Zimmer. Ein intimer Moment mit einem der größten Popstars der Generation Z, wären da nicht die Mitarbeiterinnen ihres Labels, die kontrollieren, dass der Timeslot von maximal 20 Minuten eingehalten wird.

Vor vier Jahren ist Ulven alias Girl in Red zum queeren Postergirl der jungen Generation avanciert. Bekannt geworden ist sie mit melancholischen Indiepop-Songs, die queeres Verlangen, Verliebtheit und mentales Befinden thematisieren. Ihre frühen Songs nahm sie noch in ihrem Kinderzimmer in der norwegischen Kleinstadt Horten auf und lud sie anschließend auf Soundcloud hoch.

Girl in Red: „I’m Doing It Again Baby!“ (Columbia/Sony)

Die Frage „Do you listen to Girl in Red?“ wurde auf Tiktok zur geläufigen Codefrage, mithilfe derer sich Nut­ze­r*in­nen der streng regulierten chinesischen Social-Media-Plattform über eigene queere Identitäten austauschen. Der Song „We Fell in Love in October“ hat knapp eine Milliarde Streams auf Spotify. „My girl, my girl, my girl / you will be my world“ singt sie darin im Refrain über tänzelnden Gitarrenriffs mit ihrer sanften Stimme.

2022 veröffentlichte sie den Anschlusssong „October Passed Me By“, der die tragische Auflösung bot. Die junge Liebe, die Ulven noch im ersten Song feierte, endete beim zweiten mit Herzschmerz.

Vorband für Taylor Swift

Mit ihrem zweiten Album will sich Ulven von der Zuschreibung melancholische Singer-Songwriterin befreien. „I’m Doing It Again Baby“ heißt das Werk. In der Zwischenzeit war sie nicht gerade untätig. Seit der Veröffentlichung ihres Debüts „If I Could Make It Go Quiet“ 2021 tourte sie ausgiebig durch die USA und Europa, vergangenes Jahr spielte sie Vorband für ihr US-Idol Taylor Swift. Auch privat scheint sich einiges in ihrem Leben getan zu haben. Mit ihrer Freundin und ihrem Border Collie wohnt sie nun in Oslo.

„Mir geht es inzwischen viel besser. Ich glaube, das hat mit dem Älterwerden zu tun“, erklärt Ulven. Schon beim Debütalbum ging sie mit dem Thema der psychischen Gesundheit offen um. Im Song „Serotonin“ besang sie Zwangsgedanken, Depressionen und Ängste.

Beim Auftaktsong des neuen Albums, „I’m Back“, greift sie das Thema abermals auf. Seine Message ist positiver und weniger komplex als noch in den Songs des Vorgängeralbums. „I’m back, I feel like my­self / I was gone for a minute / Cos I went to get help / It’s not like I wanna die / At least not now, I love being alive“, singt sie zu gedämpften Klavierakkorden mit ihrer rauen Stimme. „Ich möchte die kleinen Erfolge des Alltags hervorheben, einen positiveren Blick auf das Leben vermitteln“, sagt sie zum Songtext.

Gefühle sammeln und verarbeiten

Die Produktion ist minimalistisch gehalten, im Gegensatz zu den neun weiteren Songs des Albums. Ihr Homestudio in Bergen tauschte Ulven gegen das 48-Spur-Superstudio Electric Ladyland in New York. Kein Wunder, dass die Produktion nun selbstbewusster, poppiger und radiotauglicher klingt als die des Debüts. Die rotzigen Poppunk-Intermezzi in „Phantom Pain“ erinnern an Olivia Rodrigo, der optimistische Poprap von „A Night to Remember“ an, na ja, Taylor Swift.

Statt über unerfülltes queeres Verlangen zu singen, thematisiert Ulven ihre Beziehung zu einer Frau. Wobei diese Romanze nicht unbeschwert verläuft. „A Night to Remember“ behandelt die Nacht, in der sie ihre Freundin kennengelernt hat. In „Pick Me“ behauptet sie sich gegen einen Nebenbuhler. „Why are you leaving with him? / I guess he’s got something I can’t give“, singt sie mit flehender Stimme über einem aufbrausenden Pianolauf und pulsierenden elektronischen Beats.

Wie gehen die in den Texten angesprochenen Privatpersonen eigentlich mit Ulvens offenherzigen Songtexten um? „Meine Freundin und ich haben darüber geredet. Sie weiß, dass meine Songtexte in der Realität verankert sind, aber durchaus mit Storytelling-Techniken arbeiten. Ich übertreibe, füge Sachen hinzu und übe mich im Worldbuilding. Ich sammle Gefühle und versuche daran zu denken, was andere Leute dabei empfinden können.“

Neugewonnenes Selbstbewusstsein

Chaotische Emotionen fängt Ulven mit ihrem Gesang gekonnt auf und bringt sie ausdrucksstark ein. Sie singt von Eifersucht, vom Verliebtsein und Unsicherheiten, aber auch von ihrem neugewonnen Selbstbewusstsein.

Ihre emotionale Ambivalenz macht sich jedoch in den Songtexten bemerkbar. Ihnen fehlt der unbedarfte und authentische Coming-of-Age-Charakter, mit dem sich die vorwiegend queere Zielgruppe identifizieren konnte.

Ulven ist sich durchaus bewusst, dass sie mit ihrem neuen Album einige ihrer alten Fans vergraulen könnte. „Ich muss meine Fans informieren, dass meine Musik jetzt anders klingt. Das ist ein bisschen so wie damals, als ich in der zwölften Klasse mein Facebook-Profilbild aktualisiert habe“, überlegt sie.

Nun sehen wir also eine selbstbewusste Popsängerin, die sich nicht mehr ausschließlich über Queersein und ihre psychische Wellness definieren möchte. Die Frage „Do you listen to Girl in Red?“ hat sie aus ihrem Status gelöscht.

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