Neues Album von Kraftklub: Aufbruchstimmung allerorten

Das Quintett Kraftklub meldet sich mit dem Album „Kargo“ zurück. Wieder gebührt dem hassgeliebten Chemnitz eine tragende Rolle in den Songtexten.

Kraftklub in schwarzen Mänteln vor weißer Wand. Das Foto erinnert an das Cover des Albums "Black&White" der britischen Punkband The Stranglers

Wie einst The Stranglers: Kraftklub in „Black&White“ Foto: Philipp Gladsome

Für die eine ist es ­„Single Ladies“ von Beyoncé, für den anderen „Don’t Stop Believin’“ von Journey. Songs, die die Erinnerung an eine bestimmte Phase im eigenen, den Popstars fernen Leben wachrufen. Den Schulabschluss feiern, den ersten großen Liebeskummer überstehen, in eine neue Stadt ziehen.

Mit einer Ode an diese Soundtracks des Alltags tauchte die Chemnitzer Band Kraftklub diesen Frühling wieder aus der Versenkung auf. Im ersten neuen Track, „Ein Song reicht“, besingen sie eine zerbrochene Beziehung, wie bestimmte Musik die vermeintlich gut verdrängten Emotionen wieder hervorholt, und zählen dann auf: „Verdammter Mike Skinner, Kate Nash, Lykke Li …“

Für viele Fans gehört Kraftklub selbst in diese Reihe: Einzelne Zeilen ihrer Songs wie „Ich will nicht nach Berlin“ oder „Und wenn du mich küsst, dann ist die Welt ein bisschen weniger scheiße“ funktionieren wie Slogans. An ihnen vorbeizukommen – zwecklos, selbst wenn man die Musik der Band eigentlich gar nicht hört.

Moshpit ist gesetzt

Der Sound von Kraftklub ist der gleiche wie vor zehn Jahren – nach vorne treibende Gitarren, der Moshpit auf den Konzerten ist gesetzt, egal, ob sie incognito auf einem Gehweg in Leipzig oder in der Berliner Wuhlheide bei einem großen Open-Air-Konzert auftreten. Der charakteristische Wechsel von Rappen und Singen und die Songtexte, die zum Mitskandieren, aber auch Sinnieren einladen, funktionieren heute vielleicht sogar noch besser als je zuvor.

Kraftklub: „Kargo“ (Vertigo/Universal).

Live: 10. 11., Kiel, Wunderino Arena, 11. 11., Rostock, Stadthalle, 12.11. Lingen, Emslandarena, 14.11.Hamburg, Sporthalle, 15.11. Braunschweig, Volkswagen-Halle, 17.11.und 18.11. München, Zenith, wird fortgesetzt

Fünf Jahre sind seit dem letzten Lebenszeichen vergangen. Kraftklub legten eine Pause ein: Von der steilen Karriere. Und Sänger Felix Kummer brauchte Zeit für sein Solo-Projekt. Die Pandemie erledigte den Rest. Jetzt sind sie zurück mit ihrem vierten Album „Kargo“ und der alten Wucht.

Warum ausgerechnet sie so erfolgreich geworden sind, wundert sich Felix Kummer im Auftaktsong „Teil dieser Band“ des neuen Albums: „Es ist nicht verdient und es ist nicht fair / Wenn’s das war, dann war’s das wert / Ich mach weiter bis jemand merkt: / Ich kann nicht sing’n / Ich spiel kein In­stru­ment/ Aber alle am spring’n/ Und ich schrei den Refrain.“

Wie ein Hochstapler

Dazu erklärt der 1989 geborene Kummer im Gespräch mit der taz: „Ich fühle mich oft wie ein Hochstapler. Ich muss auch zugeben, dass ich nicht wüsste, was ich sonst kann oder wer ich wäre, ohne diese Band.“ Eine Antwort muss der Popstar auf diese Frage erst mal nicht finden, denn die vorab veröffentlichten Songs kommen bei den Fans bestens an.

In vielen Punkten halten sie an der bewährten Kraftklub-Rezeptur fest – beziehungsweise ist Felix Kummer nach dem Versuch auf dem Vorgängeralbum („Keine Nacht für Niemand“), aus der Sicht von fiktiven Protagonisten zu texten, wieder zu Narrativen aus seiner eigenen Erlebniswelt zurückgekehrt.

Er hat sich zudem den Mut, Verletzlichkeit zuzugeben, aus seinem Solo-Projekt bewahrt. Für die Band fühlt es sich weniger wie ein Comeback und mehr wie ein erneutes Debütalbum an. Sie spürten keinen Erwartungsdruck, eher war es ansteckende Euphorie, denn, Kraftklub haben erstmals mit einem neuen Produzenten, Flo August statt Philipp Hoppen, gearbeitet. Viele Mitglieder ihrer Roadcrew haben durch die Zwangspause in der Pandemie inzwischen andere Jobs – es ist auch das erste Album nach diesem Einschnitt.

Erinnerungen an 2018

Es ist zudem das erste Werk seit den rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz 2018, den Tagen, als vermeintlich normale Bür­ge­r:in­nen ihre faschistische Meinung nicht mehr hinter vorgehaltener Hand kundtaten, sondern sie in der sächsischen Stadt mit Nazi-Shirts zur Schau stellten und gewaltsam durch die Straßen zogen.

Um dem Mob etwas entgegenzusetzen, organisierten Kraftklub damals innerhalb weniger Tage das kostenlose #wirsindmehr-Konzert, zu dem mehr als 60.000 Menschen nach Chemnitz kamen. Über den Kater am Tag danach gibt es auf dem neuen Album das beeindruckende Stück „4. September“. Sein Text vermittelt vor allem ein Gefühl von Ohnmacht, die Leere, die nach der krassen positiven Energie am Konzerttag zurückbleibt, die Angst, nicht nachhaltig etwas an den Verhältnissen verändern zu können.

„Ich denke, wir konnten den Leuten das Gefühl geben, nicht allein zu sein, aber die Probleme löst man damit nicht und deswegen war ich sehr frustriert. Genau über solche Momente schreibe ich dann Songs.“ Kummer erklärt weiter, er habe kein Bedürfnis, über die glücklichen Phasen in seinem Leben Songs zu komponieren.

Eben doch aushaltbar

„Deswegen gibt es auch kein Lied, das so geht: (singt) ‚Hey yeah, 2025, wuhu, wir werden Kulturhauptstadt!‘ Auch wenn ich mich natürlich mega darüber freue, dass Chemnitz europäische Kulturhauptstadt wird. Wir würden ja nicht hier wohnen bleiben, wenn es unaushaltbar wäre.“ Das sei ein Widerspruch, mit dem die Band im Prinzip lebt, seit die Musiker Abi gemacht haben. Damals sind die meisten ihrer Freun­d:in­nen weggezogen, aber Kraftklub sind geblieben. Natürlich waren sie meist 200 Tage im Jahr unterwegs und konnten auf Tour viele Eindrücke sammeln.

Auch früher verhandelten Kraftklub-Songs ost- und westdeutsche Lebensrealitäten mit speziellem Augenmerk auf Chemnitz – jetzt ist es das bestimmende Thema auf „Kargo“. Es sind definitiv keine schlagerhaften Jammer-Ossi-Texte. „Wenn wir aufhören würden, uns an den Sachen, die in Chemnitz scheiße laufen, abzuarbeiten, dann würde was schieflaufen“, erklärt Kummer.

Und changiert zwischen Frustration und Verantwortungsgefühl, oder, wie es im Lied „Wittenberg ist nicht Paris“ heißt: „Nazis raus ruft es sich leichter, da wo es keine Nazis gibt.“ Der Albumtitel „Kargo“, was für Frachtgut steht, spielt mit dem Bild von Bewegung und der Sehnsucht nach der weiten Welt. Er referiert aber damit auf ein Gefühl des Abgehängtseins.

Provinziell und verkehrstechnisch abgeschnitten

„Chemnitz ist, glaube ich, die größte Stadt Deutschlands, ohne ICE-Anbindung. Man fühlt sich nicht nur provinziell, sondern auch buchstäblich von der Welt abgeschnitten“, moniert Kummer. So ist es auch kein Zufall, dass Kraftklub in den aktuellen Musikvideos entweder vor einer verlassenen Bushaltestelle stehen oder mit verschiedenen Vehikeln wie dem Zug, einem Hubschrauber oder einem Lada-Niva-Geländewagen unterwegs sind – auf der Reise oder auf der Flucht.

In Letzterem sitzen sie übrigens mit den Zwillingsbrüdern Bill und Tom Kaulitz (Tokio Hotel), die ebenfalls aus der ostdeutschen Provinz kommen. Die beiden Stars haben sie extra aus dem Boulevard-Todesstreifen herausgeholt, damit sie gemeinsam über das Zurücklassen der ehemals ostdeutschen Heimat singen.

Ebenbürtig als Gast auf „Kargo“ ist die Synthie-Popperin Mia Morgan aus Kassel, die einst als Vorband von Kraftklub mit ihrer One-Woman-Show mit Laptop und Gitarre begeisterte. Auch mit im Boot sitzt das Chemnitzer Trio Blond, das zu zwei Dritteln aus den Kummer-Schwestern Nina und Lotta besteht. In der hiesigen Indie-Szene sind beide Projekte inzwischen etabliert, im Mainstream noch unbekannt. Kraftklub haben also nicht große Idole wie Farin Urlaub ehrfürchtig dazugebeten, sondern sind nun selbst Mentoren – und haben erstmals Kolleginnen dabei.

Daran ist auch zu merken, dass die Band an sich und ihrer Karriere gewachsen ist. Das zeigt auch der Umgang mit „Dein Lied“ vom Album „Keine Nacht für Niemand“ (2017): Irritation und Entsetzen waren damals groß, als die lausbübischen Lieblinge von Publikum und Presse die Ära mit theatralischem Livestream einläuteten und im Refrain von „Dein Lied“ eine Verflossene als „verdammte Hure“ besungen wurde.

Auch wenn Kraftklub-Fans der Band diesen misogynen Schnitzer verziehen haben, gehört das Lied für Felix Kummer zu den Dingen, die er retrospektiv gerne anders gemacht hätte. Beim neuen Song „Der Zeit bist du egal“ entschuldigt er sich ausdrücklich dafür. Kraftklub haben den Song inzwischen von allen Plattformen entfernt. Ein Lied, das lieber keine Erinnerungen mehr wecken soll.

Zur Veröffentlichung von „Kargo“ ist nichts von Frustration zu spüren, Aufbruchstimmung allerorten. Kraftklub tingeln im Zug (!) durchs Land und beglücken Fans bei Spontankonzerten auf Bahnsteigen und WG-Partys. Neues Album, neues Glück, neue Erinnerungen.

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