Neues Buch über polnische Juden im NS: Die Todeszone

Hannah Arendt widerlegt: Yehuda Bauer hat eine hervorragende Studie über den Tod und den Widerstand der polnischen Juden veröffentlicht.

Juden im Warschauer Ghetto, 1943. Bild: ap

Es ist mehr als ein Jahr her, dass Timothy Snyders Studie „Bloodlands“ Furore machte. Als „Bloodlands“ bezeichnete der Historiker Snyder jene Gebiete Ostpolens, die Hitler vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zunächst Stalin zusprach, sie somit sowjetischer Herrschaft überließ, um sie nach dem Überfall auf die Sowjetunion zu überrennen und in kürzester Zeit beinahe alle dort ansässigen Juden, es waren etwa 1,3 Millionen Menschen, durch SS und Wehrmacht ermorden zu lassen.

Die Rezeption von Snyders Studie erweckte – ohne dass ihr das wirklich zu entnehmen war – den Eindruck, dass Stalins Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutschland zu gleichen Teilen an der Ermordung der polnischen Juden beteiligt gewesen seien. Dieser falsche Eindruck wird jetzt durch eine neue Studie des Doyen der israelischen Holocaustforschung Yehuda Bauer korrigiert: Wer immer glauben mochte, der Totalitarismustheorie doch noch etwas abgewinnen zu können, wird hier eines Besseren belehrt.

Bauer legt seine Untersuchung als methodisch kontrollierte Fallstudie über eine Reihe von kleinen Städten in Ostpolen in einem Gebiet namens Kresy an, das sich von Litauen im Norden bis nach Rumänien im Süden erstreckte.

Dort lebten Juden in kleinen Städten, jiddisch „Schtetlech“ genannt, in Orten also, wo sie zwischen 1.000 und 15.000 Einwohnern etwa ein Drittel der Einwohnerzahl stellten. Diese zum Teil in vielen Bereichen noch traditionell gestimmten Gemeinden unterlagen schon im antisemitischen Vorkriegspolen einem starken Wandlungsprozess.

Mit dem sowjetischen Einmarsch 1939, der jungen Jüdinnen und Juden die Chance bot, sich jenseits der Tradition in einem als fortschrittlich geltenden Projekt zu engagieren und mit der zwangsweisen Auflösung jüdischer Gemeindeinstitutionen wurde die soziale Basis traditionellen jüdischen Lebens zerstört, ohne dabei im klassischen Sinne antisemitische Ziele zu verfolgen.

Auf diese erste Stufe der Auflösung einer Lebensform folgte nach dem Einmarsch von Wehrmacht und SS im Jahr 1941 in einer zweiten Stufe die physische Liquidation, die Ermordung jener, die einst an ihr teilhatten.

Dass Jüdinnen und Juden gleichwohl in jenem kurzen Zeitraum, da Wehrmacht und SS alles daransetzten, sie entweder zu ermorden oder bis zum Tod als Arbeitskräfte auszubeuten, Widerstand übten, ist eines der herausragenden Ergebnisse der Studie.

Koalition gegen die Juden

Unter „Widerstand“ versteht Bauer aber nicht nur die Bereitschaft, sich Waffen zu besorgen und in die Wälder zu gehen, sondern auch Sozialarbeit, Sorge für Alte und Kinder sowie das Aufrechterhalten von Rudimenten religiösen Lebens. Bauer bezeichnet diese – zum großen Teil gewaltlose – Form des Widerstands als „Amida“, das ist hebräisch, bedeutet so viel wie „Stehen“ oder „Stand“ und enthält eine Anspielung, die der Autor den Lesern nicht offenbart. Vor allem nämlich bezeichnet der hebräische Begriff „Amida“ das nur im Stehen zu sagende Hauptgebet im synagogalen jüdischen Gottesdienst.

Die Kresy oder – in Snyders Worten – „Bloodlands“ waren ein ethnisch vielfältig besiedeltes Gebiet, in dem neben Juden und Polen auch Ukrainer und Weißrussen lebten, ethnische Minderheiten, die einander spinnefeind waren, es aber allemal auch – in wechselnden Koalitionen – auf die Juden abgesehen hatten. Ein Areal ethnisch nationalistischer Gruppierungen, die im raschen Wechsel von Stalin zu Hitler und von Hitler zu Stalin schwankten, andere Gruppen bekämpften, aber auf jeden Fall gegen die Juden vorgingen.

Dass deren Ermordung nach dem deutschen Einmarsch so schnell exekutiert werden konnte, lag nicht nur an der weitgehenden, keineswegs völligen Entsolidarisierung dieser meist bäuerlichen Gruppen, sondern auch daran, dass ukrainische Nationalisten, Teile der polnischen Heimatarmee sowie sogar Teile prosowjetischer Partisanen entweder an der Ermordung von Juden beteiligt waren oder ihnen jede Hilfe versagten.

Die Judenräte

Bei alledem blieben die Juden keineswegs passiv. Weder ließen sie sich, wie nach dem Krieg gern im jungen Staat Israel kolportiert, wie Schafe zur Schlachtbank führen, noch verhielten sie sich, wie Hannah Arendt mit Blick auf die von den Deutschen eingesetzten „Judenräte“ glaubte urteilen zu müssen, wie gezähmte, bürokratisch botmäßige Opfer.

Bauer untersucht eine ganze Reihe unterschiedlicher, von den Deutschen erzwungener „Judenräte“ und kann zeigen, dass dort eine große Bandbreite herrschte: von willenloser Befehlserfüllung bis zur Organisation des bewaffneten Widerstands gegen Wehrmacht und SS.

An diesem Fall erweist sich der Vorteil präziser, quellengestützter historischer Forschung gegenüber an einem einzelnen Fall entfalteter geschichtsphilosophischer Spekulation, wie sie Hannah Arendt in ihrem Eichmann-Buch vorgetragen hat. Nach der Rehabilitierung des Wiener Mitglieds des Judenrats, Benjamin Murmelstein, durch Claude Lanzmanns jetzt gezeigten Film „Le dernier des injustes“ dürfte mit Yehuda Bauers Studie Arendts Ansicht über die Judenräte endgültig widerlegt sein.

Versagen der Totalitarismustheorie

Bei alledem verschweigt Bauer in seinem gedrängten Panorama nicht, dass auch und gerade polnische, ukrainische und weißrussische Bauern, ja sogar deutsche Soldaten vereinzelt Juden retteten, kann aber doch zu keinem anderen Schluss kommen als dem, dass es die Sowjetunion und die ihr unterstehenden Partisanengruppen waren, die das Überleben der polnischen Juden bewirkten.

Paradoxerweise überlebten gerade jene Juden den Zweiten Weltkrieg, die nach der Teilung Polens in die sowjetische Zone flohen und von dort in den Gulag und in den Fernen Osten deportiert wurden. Bauer schreibt es allen ins Stammbuch: „Es war eindeutig die Rote Armee, die die letzten überlebenden Juden nicht nur der Kresy, sondern aus ganz Osteuropa, im Grunde aus ganz Europa gerettet hat. Hätte es die Rotarmisten nicht gegeben, die vielen Antisemiten unter ihnen eingeschlossen, hätte es auch nirgendwo in Europa jüdische Überlebende gegeben, wahrscheinlich auch kein Israel.“

Yehuda Bauer räumt ein, dass dies nicht aus edlen ethischen Motiven heraus geschah, sondern aufgrund einer doktrinären Ideologie. Indes: Den Widerspruch zwischen dem rettenden Handeln der Sowjets und ihrem brutalen Regime aufzulösen bleibt eine künftige Aufgabe – mit der Totalitarismustheorie ist sie nicht zu meistern.

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