Neues Buch von Patrik Svensson: Das Meer als Ewigkeits­metapher

Ein eigenartiges Landlebewesen mit unstillbarer Neugier: In zehn luziden Essays beleuchtet Patrik Svensson das Verhältnis des Menschen zur See.

Meer, Wellen und Horizont

Das Meer als Ewigkeitsmetapher Foto: Chromorange/imago

Vor ein paar Jahren erschien mit „Evangelium der Aale“ ein außergewöhnliches Sachbuch, in dem der schwedische Journalist Patrik Svensson die Geschichte vom Wesen und Werden des Aals mit seiner eigenen Familiengeschichte verschränkte: Es handelte auch vom Vater des Autors.

Nun hat er eine Art Fortsetzung vorgelegt, worin er sowohl den inhaltlichen Fokus erweitert als auch ein anderes Familienmitglied beim Schreiben liebevoll in den Blick nimmt. „Die Chronistin der Meere“ ist seiner Mutter gewidmet. Und obwohl das Buch in thematisch deutlich unterschiedene Kapitel gegliedert ist, hat man am Ende wieder das Gefühl, dass hier sehr geglückt ein großer Bogen geschlagen worden ist.

„Den lodande människan“ / „der lotende Mensch“ lautet der Originaltitel des Buches, in dem, implizit und unübersetzbar, auch der „leidende Mensch“ („den lidande människan“) mitklingt. Vor allem wurde dieser lotende Mensch, erzählt das gleichnamige Kapitel, stets von seiner Neugier geplagt.

Knoten und Senkblei

Für die Schifffahrt war es allerdings auch immer schlichte Notwendigkeit zu wissen, wie viel Wasser sich unter dem Kiel befand. Anschaulich erläutert Svensson, wie anfänglich mit Stangen die Wassertiefe gemessen, dann das Senkblei erfunden wurde (auch das Messen der Geschwindigkeit auf dem Wasser in „Knoten“ hängt damit zusammen) und von dort aus die Methoden der Meereserforschung immer komplexer wurden.

Patrik Svensson: „Die Chronistin der Meere. Über die Tiefe und die Neugier“. Aus dem Schwedischen von T. Altefrohne und H. Granz. Hanser, München 2023, 243 S., 24 Euro

Ein anderes Kapitel widmet sich der tiefsten Stelle des Meeres: dem Challengertief, dessen Boden in 10.916 Metern Tiefe Jaqcues Piccard und Don Walsh im Jahr 1960 mit einer selbstgebauten Tauchkapsel erreichten. Nur zwei Menschen waren nach ihnen hier unten; einer davon der Filmregisseur James Cameron.

Neben Neugier und Wissensdurst, die den Menschen immer wieder ins Unbekannte treiben, beleuchtet Svensson den fatalen menschlichen Drang, alles Entdeckte zu beherrschen. Die erste Weltumsegelung unter Führung des Portugiesen Ferdinand Magellan im 16. Jahrhundert erzählt er zum Großteil aus Sicht eines malaiischen Sklaven, den Magellan als Dolmetscher auf die große Fahrt mitgenommen hatte.

Naturbeherrschung

Auch die Geschichte des Walfangs ist verstörend. „Man wollte ihn töten, weil man konnte, nicht, weil man es musste“, heißt es über den Pottwal. „Der Nutzen, den der Pottwal für den Menschen hatte, scheint eher eine nachträgliche Erklärung zu sein, so als wäre das Ziel dem Sinn vorausgegangen.“ Etwa 36.000 Pottwale gebe es heutzutage weltweit noch – geschätzt ein Viertel des einstigen Bestandes, bevor der Mensch begann, das größte Meeressäugetier gezielt zu jagen. Das Kapitel trägt den Titel „Das größte Raubtier“; und damit ist nicht der Wal gemeint.

Dass Entdeckungslust und Forscherdrang aber ebenso mit tiefer Naturverbundenheit einhergehen können, belegt Patrik Svensson unter anderem mit einem Porträt des autodidaktischen schottischen Naturforschers Robert Dick, der im 19. Jahrhundert lebte und sich als Bäcker durchs Leben schlug.

Der titelgebende Essay „Die Chronistin der Meere“ handelt von der amerikanischen Biologin Rachel Carson, die nicht nur mit ihren Büchern über das Meer in puncto Nature Writing neue Maßstäbe setzte, sondern mit „Der stille Frühling“ auch eine Art Gründungsmanifest der Ökobewegung schrieb.

Menschengemachte Vermüllung

Ein Kapitel über die menschengemachte Vermüllung der Meere findet sich in Svenssons Buch nicht. Eine einzige Plastiktüte an der symbolisch wirksamsten Stelle des Bandes reicht aus, um die Dringlichkeit dieser Problematik zu verbildlichen, die thematisch ansonsten auch nicht wirklich einen Platz auf dem gedanklichen Bogen fände, den das Buch schlägt.

In der Gesamtheit aller Essays, so sachlich und faktenreich sie im Einzelnen sind, entsteht ein Bild vom Meer als Seins- oder Ewigkeitsmetapher. Der Mensch wiederum gibt das Bild eines eigenartigen Landlebewesens ab, das allem anderen, was da kreucht, fleucht und schwimmt, oft sehr übel mitspielt, das aber in seiner großen, unstillbaren Neugier auf alles Unbekannte dennoch sehr erstaunlich ist.

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