Neues Indie-Album von Sufjan Stevens: Sein Leben als Erdnuss

Traurig, schwelgend, etwas hyperaktiv: Auf dem Indie-Album „Javelin“ findet der US-Musiker Stevens zu den Folkwurzeln zurück.

Schaut skeptisch zur Seite: Sufjan Stevens

Seitenblicke auf die Liebe: Sufjan Stevens Foto: Andrea Morrison

Sufjan Stevens muss man sich als Indie-Künstler vorstellen, der ein großes Bedürfnis hat, das zu entschlüsseln, was die Spezies Mensch in der Welt zusammenhält. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig ein emotionales Auf und Ab, was sich in seiner erratischen Musik widerspiegelt: Elegisches folgt direkt nach aufgeregtem Gebimmel, in das wiederum kakofones Durcheinander einbricht.

Mit inzwischen zehn Soloalben präsentiert sich der 48-Jährige als mal folkiger, dann wieder elektronikaffiner Eklektiker. Das emotionale Oszillieren gehörte stets zum Schaffen dieser musizierenden Flipperkugel, wenngleich die Grundierung im Sufjan-Stevens-Sound über die Jahre doch düsterer geworden ist.

Über seine Disposition, zwanghaft Sinnzusammenhänge zu suchen, macht Stevens sich inzwischen selbst lustig. So scheint es zumindest im umfänglichen Booklet, das die Veröffentlichung seines opulenten neuen Albums „Javelin“ begleitet und mit der aufzählenden Feststellung endet: „Ich wurde in Gänze und Wahrheit wiedergeboren. Ich war eine Erdnuss … eine Brezel. Ich war eine frittierte Garnele. Ich war das personifizierte Chaos. Ich war ein weiteres Mal ich selbst und wartete darauf, wieder zu passieren, immer wieder und wieder und wieder … bis zum Ende.“

Vom Glauben abfallen

Die persönlichen Essays, in denen er durchlebten und durchlittenen Lieben nachspürt – den konkreten und den metaphysischen – lassen sich durchaus so lesen, dass der Singer-Songwriter und Multiinstrumentalist langsam vom Glauben abfällt.

Sufjan Stevens: „Javelin“ (Asthmatic Kitty/Cargo)

Nicht unbedingt seine christliche Prägung betreffend, die immer wieder aufpoppt, seit er vor 20 Jahren mit dem Album „Michigan“ (2003) den Durchbruch hatte – am offensichtlichsten widmete er sich auf „Seven Swans“ (2004) biblischen Themen.

Doch offenkundig vom Glauben abgefallen ist er im Hinblick auf die USA, für die er früher Empathie übrig hatte. In der wabernden zwölfminütigen Single „America“, veröffentlicht am Unabhängigkeitstag 2020, heißt es: „I have loved you / I have grieved / I am ashamed to admit / I no longer believe“. In einem Interview mit dem britischen Guardian zum elektronischen Vorgängeralbum „The Ascension“ bezeichnete er die Kultur seiner Heimat als „up in flames“.

Mischung aus Pfadfinder und Hipster

Einst wollte der all-american-boy Stevens – irgendwie wirkt der Endvierziger immer noch wie eine charmante Mischung aus Hipster und Pfadfinder – jedem Bundesstaat ein eigenes Werk widmen. Auf „Michigan“ folgte lediglich „Illinois“ (2005), die Idee erwies sich als Promo-Gimmick.

Diesmal ist Stevens’ Fokus persönlicher, und wie es ein Instagram-Post anlässlich der Veröffentlichung andeutete, steckt darin auch ein Coming-out des sonst das Private konsequent abschirmenden Künstlers: Die Musik ist seinem im April verstorbenen Partner Evans Richardson gewidmet. Klanglich ist er wieder zurück auf folkigem Terrain.

Und auch wenn Stevens auf verschiedenen Ebenen zweifelt: Er bleibt ein Suchender, damit letztlich ein Optimist, wovon gleich der Auftaktsong „Goodbye Evergreen“ zeugt. In beseeltes Schwelgen bricht lärmige Dissonanz ein, doch zum Ende löst es sich in sanftem Geplingel auf.

Liebe und Fingerpicking

Bei „Will anybody ever love me?“ sorgt ein Background-Chor für Emphase auf diese zentrale Frage, während Stevens auf der Gitarre fingerpickend ausführt, wie er geliebt werden will: „For good reasons / Without grievance, not for sport“. Sein Songwriting holt einen durchaus ab, auch wenn es bisweilen fast zu vertraut klingt. Aus seiner gereiften Weltsicht könnte ja auch klanglich etwas Neues entstehen. „Javelin“, was immerhin „Speer“ bedeutet, setzt jedoch kaum Stiche.

Nach experimentierfreudigen Kooperationen, etwa mit seinem Stiefvater Lowell Brams, bietet die Musik des Albums nun wieder den klassischen Stevens-Sound: elegisch, schwelgerisch, ein bisschen hyperaktiv. Gerade auf der Bühne werden diese vielen Schichten sicher gut klingen.

Doch bis die Songs bei Konzerten dargeboten werden, dauert es wohl noch. Vor wenigen Wochen gab der Musiker bekannt, am Guillain-Barré-Syndrome erkrankt zu sein, einer von Lähmungserscheinungen begleitenden Autoimmun-Erkrankung. Deshalb erst mal von hier alles Gute!

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