Notizen aus dem Krieg: Mauerreste bringen Likes

Trotz Raketenalarms probt unsere Autorin mit ihrer Theatergruppe. Bei Aufräumarbeiten übermalen Helfer ein Lenin-Porträt blau-gelb.

Trümmer, auf einem Teller sitzt ein Schmetterling.

Ein Schmetterling auf den Trümmern einer Küche Foto: privat

Kateryna Smirnova ist 25 Jahre alt und kommt aus Kyiv. Zu Beginn des Krieges sind ihre Eltern und ihr Bruder nach Lwiw gereist, leben jetzt aber auch wieder in Kyiv. Kateryna arbeitet als freiwillige Helferin in den umliegenden Dörfern und hilft beim Wiederaufbau der zerstörten Häuser, indem sie diese räumt und Aufbauprozesse mitorganisiert. Neben dieser Freiwilligenarbeit und der Arbeit als Übersetzerin spielt Kateryna Schlagzeug in einer ukrainischen Folkband und Theater. Für die Band- und Theaterproben reist sie regelmäßig nach Lwiw.

29. September

Ich swipe durch die Instagram-Storys meiner Freunde: ein Donut, tote Zivilisten nach einem Raketenangriff, ein Selfie, Urlaubsfotos in Rom, Crowdfunding für einen Freund, der zum Militär geht, zwei Memes, ein Video von einem Phosphorbombenangriff – faszinierend – und eine ganze Reihe von Witzen über Atomangriffe. „Nuclear war. Hilarious, right?“, ein Satz aus dem Film „Dr. Strangelove“, an den ich mich jetzt wieder erinnere.

Morgen will Russland die Ergebnisse seiner Scheinreferenden in den ukrainischen besetzten Gebieten bekannt geben. Wie stimmt man über den Beitritt zu Russland ab, wenn eine Waffe auf einen gerichtet ist? Mit der gleichen Logik könnten sie auch Teile des Mondes als russisches Territorium beanspruchen. Niemand appelliert mehr an die Vernunft und solche „Abstimmungsergebnisse“ ebnen den Weg für den Einsatz von Atomwaffen. Es sind auch nicht mehr viele Kriegsverbrechen übrig, die noch nicht verübt wurden.

Viele Menschen entgegnen dem Krieg mit absurdem Humor. Vor einiger Zeit erstellte eine Gruppe Urkainer einen Telegram-Chat mit einer Einladung zu einer Party (okay, einer Orgie) auf dem Hügel Shchekawytsya in Kyiv am Tag des voraussichtlichen Atomangriffs. Meine Freunde verschoben zuletzt unangenehme Besorgungen und Pflichten auf ein paar Tage nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der Scheinreferenden. Der Satz „wenn es die Welt dann noch gibt“ und ein zynisches Grinsen, sind zu einer Floskel am Ende jeder Terminvereinbarung geworden. „Yaderka“, das Diminutiv im Ukrainischen für den nuklearen Angriff, findet seinen Weg in jeden Smalltalk.

Ich persönlich habe keine Angst. Ich kann es nicht verhindern. Ich spende weiter für die Armee und suche Blumen für die Wohnung aus, in die ich gerade eingezogen bin. Letztens besuchte mich ein Freund spontan, und das Erste, was er sagte, als ich ihn hereinließ, war: „Oh mein Gott, es ist unerträglich, alle reden von der nuklearen Bedrohung. Wie geht es dir?“ Und so verbrachten wir die nächsten vierzig Minuten damit, uns über die nukleare Bedrohung zu unterhalten.

30. September

Mein Bruder fragte mich, was ich am 30. September um 14 Uhr mache, wenn die Ergebnisse der Scheinreferenden veröffentlicht werden. Zu der Zeit bin ich in der Probe für ein Theaterstück. Als wir proben, beginnt es zu gewittern. Einige zucken zusammen, einige atmen tief durch. Wir machen weiter. Ein paar Minuten später geht dann der Luftschutzalarm auf unseren Telefonen los, der Klassiker. Zeitlich verzögert klingelt der Alarm auf den verschiedenen Handys unserer Theatergruppe, was unsere Choreografie immer wieder unterbricht. Wir setzen unsere Proben dennoch fort.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Ich muss etwas früher fertig werden, um den Zug nach Kyiv zu erwischen, um von dort aus in die verlassenen Dörfer der Region Tschernihiw zu fahren, wo ich wieder als Freiwillige helfe. Als ich das Theater verlasse, lese ich direkt die Nachrichten. Putin kündigt die Annexion von vier Regionen an. Meine ganze Ruhe nach der Probe ist dahin. Ich will vor Wut schreien. Natürlich ändert dieses absurde russische Narrativ nichts an den tatsächlichen Grenzen der Ukraine. Ich fühle mich aber extrem angewidert, so als wäre ich sexuell belästigt worden. Diese blutigen Hände müssen für immer abgeschüttelt werden. Ich laufe schnell durch den Regen, um den Zug zu schaffen. Im Zug schlafe ich direkt ein.

1. Oktober

Ein Mann mit Schnauzer und einer kleinen Filterkaffeemaschine in der Hand zählt die Leute im Bus. Alle im Bus fahren an diesem Wochenende als Freiwillige in eines der zerstörten Dörfer der Region. Es ist eine lange Fahrt, und zur Unterhaltung macht jemand Musik an. Ukrainischer Funk der 70er Jahre wechselt sich mit Cardi B ab. Irgendwann läuft dann „Let it snow“ und im Bus bricht Gelächter aus. Es folgen noch weitere Weihnachtslieder, aber aus irgendeinem Grund lacht niemand mehr.

In der Wettervorhersage ist immer die Rede von Regen. Regen, Regen, Regen. Als wir das Dorf erreichen, werden wir von den Bewohnern empfangen. Sie sind zurückhaltend, aber freundlich und schenken uns rote Äpfel. Nach einem kurzen Wortwechsel mit ihnen zeigen sie uns die Plätze, an denen einst ihre Häuser standen. Wie prognostiziert beginnt es zu regnen. Einerseits atmen wir dadurch weniger Staub ein, der bei den Räumungsarbeiten aufgewirbelt wird, andererseits wird das Graben im Schutt dadurch auch anstrengender.

Für gewöhnlich gibt es zwei Höhepunkte bei dieser Arbeit. Wenn wir die Mauerreste abtragen – und wenn der Traktor kommt, der den Schutt abtransportiert. Mauerreste abzutragen bringt als Instagram-Story die meisten Likes. Dann rufen wir laut „Imperium delenda est!“ und machen uns wieder ans Graben. Wenn ein Traktor den Schutt holt, ist es vor allem deswegen ein Höhepunkt, weil es nicht selbstverständlich ist. Es gibt nur einen Traktor pro Räumungsstandort.

In einer Pause kocht die Besitzerin des zerstörten Hauses Tee für uns alle. Es gibt nicht genügend Tassen, und so teilen sich manche eine Tasse. Wir teilen uns auch die Zigaretten, die Äpfel, das Wasser und später die Zelte und den Schnaps. Und ja, wir haben von der neuen Welle der Covid-19-Fälle gehört. Wenn wir eine Pause von den Frontnachrichten brauchen, lesen wir Nachrichten über die Coronapandemie.

Nachdem wir mit den Aufräumarbeiten für den Tag fertig sind, macht die Besitzerin ein Foto von uns. Wir sollen uns dahin stellen, wo einmal ihr Herd gestanden hat, das Herzstück ihres Hauses. Sie bittet uns dann, statt „Cheese“ „Herd“ auf Ukrainisch zu sagen. Ich höre, wie unsere Herzen brechen, als wir für das Foto posieren. Ich bin mir sicher, dass wir traurig lächeln.

2. Oktober

Wir beobachten rauchend, wie die Einsatzkräfte unseren Fund, der wie eine 122-mm-Granate aussieht, untersuchen. Wir sind darauf gestoßen, als wir die Überreste eines Bettes aus den Trümmern befreit haben. Es regnet immer noch und wir sehen lustig aus in unseren bunten Regenmänteln. Wir machen uns nichts mehr aus der Nässe und der Kälte.

Bei unserem Fund handelt es sich tatsächlich um eine 122-mm-Granate. Doch noch bevor der Rettungsdienst die Granate entfernt, arbeiten wir schon weiter.

Ein Mann aus der Gegend, der „Student“ genannt wird, kam heute dazu. Er ist Mitte 40 und arbeitet mit bloßen Händen und nur im T-Shirt. Ich schaue ihn immer wieder an, um mich abzulenken, wenn mir kalt wird. Er lacht laut und wünscht uns ein frohes Weihnachtsfest.

„Als die Russen kamen, konnte ich es mir nicht leisten, Angst zu haben. Die Raketen wurden abgefeuert, und ich reparierte das Dach meines Nachbarn. Ich konnte es mir nicht leisten, Angst zu haben, verstehst du? Ich wollte es nicht in einem Keller aussitzen. Wenn es mich treffen soll, wird es mich auch im Keller treffen“, sagt er zu mir. Auf seinen Weihnachtsgruß wünsche ich ihm ein frohes Osterfest. Er bleibt stehen. „Du bist im Grunde genommen genauso“, sagt er.

Irgendwann verliere ich ihn aus den Augen. Wir haben erst wieder Blickkontakt, als zwei Freiwillige das ausgegrabene Lenin-Porträt mit blauer und gelber Farbe übermalen. Wir stoßen aus der Ferne miteinander an und nicken uns zu. Weihnachten ist im Grunde das Gleiche wie Ostern.

3. Oktober

Wenn mir jemand sagt, ich soll an etwas Schönes denken, denke ich an die ukrainischen Posts auf Twitter. Die Geschwindigkeit, mit der Ukrainer einen ungebildeten oder propagandistischen Tweet gekonnt mit Quellenangaben widerlegen, ist etwas, auf das man stolz sein kann. Diesmal ist es Elon Musk, der beschlossen hat, ein wenig Kriegsanalyse in Form einer Twitter-Umfrage zu betreiben. Ich bin froh, dass es Menschen gibt, die die Verantwortungslosigkeit von Musk anprangern.

Ich sende einen Geburtstagsgruß an meinen Freund an der Front. Ich lese die Wettervorhersage für den Ort, an dem er sich gerade befindet. Nachts sollen die Temperaturen unter null sinken.

Ich versuche mich auszuruhen, schaffe es aber nicht. Ich vertreibe mir die Zeit mit der Lektüre von Interviews mit Soldaten und Zivilisten aus den verlassenen Dörfern. Dann befasse ich mich mit historischer Lektüre. Seit Neustem habe ich das starke Bedürfnis, meine Wissenslücken zu füllen.

4. Oktober

Heute bin ich wieder mit dem Zug gefahren. Seit Beginn des Krieges liebe ich Züge noch mehr. Es waren viele Kinder im Waggon. Sie waren laut und hingen wie kleine Affen an den Betten und Gepäckablagen. Auch ein paar Soldaten waren im Zug. Sie liefen hin und her, tranken Kaffee und rauchten bei den Toiletten. Ab und an blieben sie stehen, um die Blicke der Kinder zu erwidern, und brachten sich gegenseitig zum Lachen.

Übersetzung aus dem Englischen: Sara Rahnenführer

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.