Obdachlosigkeit in Berlin: Die Zeit für Solidarität ist vorbei

Nach der abgesagten Obdachlosenzählung sollte ein Projekt die Vorstellungen von Wohnungslosen ermitteln. Doch das dafür eingeplante Geld wurde gestrichen.

Schlafsack auf einer Bank im Tiergarten in Berlin

Ein Anzeichen von Obdachlosigkeit Foto: Karsten Thielker

BERLIN taz | In Berlin leben 50.000 Menschen ohne Wohnung. Eine erschreckend hohe Zahl: Bei einer Ein­woh­ne­r*in­nen­zahl von 3,85 Millionen Menschen ist das jede 77. Person. Darüber hinaus ist sie ungenau. Wer zum Beispiel zeitweise bei Freun­d*in­nen oder Bekannten unterkommt, ist in dieser Statistik nicht erfasst, ebenso nur ein Teil der Asylsuchenden, die ohne Unterkunft sind. Die größte Unkenntnis herrscht in der Berliner Politik bislang über die Gruppen obdachloser Menschen, die im öffentlichen Raum leben. Die Größenordnung der Obdachlosigkeit ist unklar und die Anliegen der betroffenen Menschen wurden in die Stadtpolitik wenig integriert.

Der „Berliner Masterplan zur Überwindung der Wohnnungslosigkeit bis 2030“, erarbeitet unter dem vergangenen rot-grün-roten Senat unter Federführung der damaligen Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke), wollte das ändern. Die großen Ziele: akute Wohnungs- und Obdachlosigkeit beenden und keine neue entstehen lassen. Dazu sollten bestehende Zahlen zum Ausmaß der Obdachlosigkeit ergänzt und die Versorgung verbessert werden.

Im aktuellen Koalitionsvertrag der schwarz-roten Regierung ist das Vorhaben, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden, weiterhin festgeschrieben. Unter anderem sollen durch ein geschütztes Marktsegment insgesamt 2.500 Wohnungen bereitgestellt werden.

Um die Ziele der Senatsverwaltung aus dem Masterplan von 2021 zu unterstützen, war im August 2021 das Projekt „Zeit der Solidarität“ gestartet. Getragen wurde das Projekt vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit (VskA) in Kooperation mit der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales und der Freiwilligenagentur Marzahn-Hellersdorf. Finanziell gefördert wurde das Vorhaben von der Lotto-Stiftung Berlin. Nachdem im Juni dieses Jahres bekannt wurde, dass diese Förderung unerwartet ausläuft, sind die Mitarbeitenden mit Fragen der Finanzierung beschäftigt.

Sozialsenatorin Breitenbach hatte mit dem Projekt „Nacht der Solidarität“ bereits 2020 einen ersten Versuch unternommen, Straßenobdachlosigkeit auch in Zahlen zu fassen. In der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 2020 waren zu diesem Zweck rund 3.000 Freiwillige in kleinen Teams unterwegs gewesen. Sie konnten etwa 2.000 obdachlose Menschen in Notübernachtungen oder im öffentlichen Raum ausmachen. Auch diese Zählung gibt nur einen Hinweis auf die tatsächliche Zahl. Und es gab auch Kritik am Vorgehen der Senatsverwaltung, unter anderem von einer überregionalen Plattform der Selbstvertretung wohnungsloser und ehemals wohnungsloser Menschen, „Wohnungslosentreffen“. „Statt auszuschwärmen und die Stadt zu durchsuchen, wäre es sinnvoller, einladende Anlaufpunkte zu schaffen, in denen obdachlose Menschen freiwillig ihre Bedarfe und Wünsche und Vorstellungen äußern können“, hieß es damals im Januar 2020 in einer Stellungnahme.

„Zeit der Solidarität“

Genau dies hätte Teil des Folgeprojekts „Zeit der Solidarität“ sein sollen, welches außerdem die Zählungen wiederholen sollte. Insgesamt waren dazu ab 2021 drei Jahre vorgesehen, die Lotto-Stiftung Berlin hatte entsprechende Mittel zugesagt. Dann aber fanden sich für die Zählung im Juni 2022 nicht genug Helfende, sie musste abgesagt werden. Also passte das Projektteam in Absprache mit der Senatsverwaltung die Methode an. Statt möglichst viele Teilnehmende nach bestimmten Daten zu fragen, wurde mit dem neuen Projektbaustein „Zeit für Gespräche“ eine qualitative Befragung organisiert, die den Befragten Raum für ihre Themen lassen sollte.

Aus Sicht der Betroffenen braucht es nicht nur mehr Räume zum Übernachten, sondern andere als jetzt

Dies erforderte einige Vorbereitung: Mehr als 100 Freiwillige lernten in einer Schulung, solche Interviews zu führen. Etwa die Hälfte von ihnen blieb dabei. Sie vereinbarten Termine mit Einrichtungen und suchten auch Kontakt zu obdachlosen Menschen direkt in der Nachbarschaft. Neun Fragen, für alle die gleichen, sollten die Teilnehmenden anregen, über ihre Lebenssituation, Gründe für den Verlust der Wohnung, Schwierigkeiten im Alltag zu sprechen. Auch über Diskriminierungserfahrungen wurde erzählt und Wünsche für die Zukunft und Forderungen an die Politik formuliert.

Die bisherigen Ergebnisse von Zeit der Solidarität sind die ersten offiziellen Dokumentationen ihrer Art. Sie zeigen dringenden Verbesserungsbedarf auf: Zum Beispiel braucht es aus Sicht der Betroffenen nicht nur mehr Räume zum Übernachten, sondern andere als jetzt. Für trans und inter Menschen sowie Menschen, die offen nichtbinär oder queer leben, sind solche Unterkünfte ausschließend oder werden als besonders unsichere Räume erfahren.

„Das Vorgehen war aufwendig und erforderte viel Initiative seitens der Freiwilligen. Und natürlich von den Befragten. Sie haben sich viel Zeit genommen und uns zum Teil sehr Privates und auch Berührendes anvertraut. Das war sicher nicht einfach und sehr wertvoll“, erzählt Stella Kunkat von Zeit der Solidarität der taz. Um Themen zu fokussieren, trafen sich das Projektteam, einzelne Freiwillige und ein Teil der Befragten zwischen Februar und Mai dieses Jahres noch mehrere Male. So niedrigschwellig diese Treffen in den Nachbarschaftshäusern auch angesetzt waren, bedeuteten sie doch vor allem für die wohnungslosen Teilnehmenden einigen Aufwand, die in ihrem Alltag unter erschwerten Bedingungen schon jede Menge organisieren müssen. Trotz dieser Hürden ist aus den Treffen auch eine neue Selbstvertretung hervorgegangen, die Union für Obdachlosenrechte Berlin, kurz UfO Berlin.

Im Sinne einer Wohnungslosenpolitik, die sich für die Bedarfe der Betroffenen interessiert, ein Erfolg. Im Unterschied zur Verwaltung, die vor allem die Platzvergabe und Zuständigkeiten der Notunterkünfte regelt, soll Obdachlosigkeit aus Perspektive der Nachbarschaftlichkeit angegangen werden. „Wir wollen die Abgrenzung zwischen behausten Menschen, also denen, die eine Wohnung haben, und denen, die keine haben, nicht stehen lassen. Unser Ansatz ist, alle als Menschen einer Nachbarschaft anzusprechen und damit auch Solidarität mit obdachlosen Menschen zu stärken“, so Kunkat. Der Kontakt und die Gespräche hätten vielen der behausten Freiwilligen erst klargemacht, wie schnell es in einer Stadt wie Berlin gehen kann, die Wohnung zu verlieren. Durch Mietschulden zum Beispiel oder einfach eine Kündigung wegen Eigenbedarf oder eine Räumungsklage, die man nicht abwenden kann. Das kann jemanden zwingen, die Wohnung zu verlassen, ohne dass man eine neue feste Bleibe gefunden hat.

Eine gravierende Veränderung

Die Tatsache, dass Zeit für Solidarität die Art der Befragung an die Gegebenheiten angepasst hat, scheint in den Augen des Geldgebers, der Lotto-Stiftung Berlin, eine gravierende Veränderung zu sein. Jedenfalls wurde der Abruf für bereits verplante Gelder bei einer Stiftungsratssitzung im Winter 2022/23 nicht genehmigt. „Diese Nachricht hat uns spät erreicht und auch überrascht“, sagt Kunkat. Da die Senatsverwaltung das Projekt von Anfang an unterstützte und auch die Änderungen guthieß, sei man nicht davon ausgegangen, dass es ein solches Problem geben könnte. Auf Anfrage der taz bestätigte die jetzige Senatsverwaltung diese Unterstützung. Im gleichen Schreiben heißt es, der Charakter des Projekts habe sich deutlich verändert. Letztlich entscheidet der Stiftungsrat der Lotto-Stiftung über die Vergabe der Gelder. Protokolle über die Abstimmung sind nicht einsehbar.

Immerhin konnte eine Kam­pagne der neu gegründeten UfO Berlin Spenden einwerben und darf außerdem zumindest die Kosten für das laufende Förderjahr, bis Ende August, bei der Lotto-Stiftung Berlin abrechnen. Damit sei großer Schaden für die Projektpartner abgewendet worden, heißt es in einer Presseerklärung. Wie es nun weitergeht für UfO Berlin, steht unterdessen noch nicht fest. Derzeit würden Verhandlungen mit anderen Trägern laufen, sagt Kunkat.

Im Mai 2023 veröffentlichte unterdessen die Bezirksverwaltung Neukölln einen „Leitfaden Obdachlosigkeit im öffentlichen Raum“. Dieser modelliert das komplexe Problem zu einer ordnungsrechtlichen, polizeilich lösbaren Aufgabe um. Sozialstadtrat Falko Liecke (CDU) sieht laut Pressemitteilung in unregulierter „freiwilliger Obdachlosigkeit“ eine Gefahr der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Im Leitfaden werden Räumungen und auch „Rückführung“, also die Abschiebung obdachloser Menschen, als vermeintliche Lösungen präsentiert.

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