Politisch motivierte Kriminalität: 1.000 untergetauchte Rechtsextreme

Die Zahl der mit Haftbefehl gesuchten extrem Rechten dürfte höher sein als gedacht. Bisher tauchen Reichsbürger und Verschwörungsideologen nicht auf.

Auf dem Oberarm eines Teilnehmers am Hess Gedenkmarsch ist ein Tattoo, das einen Soldaten mit Stahlhelm und Runen zeigt

Die Zahl der mit Haftbefehl gesuchten extrem Rechten dürfte höher sein als gedacht Foto: imago

BERLIN taz | Die Zahl der offenen Haftbefehle gegen Rechtsextreme dürfte deutlich höher sein als bislang gedacht. So geht die linke Innenpolitikerin Martina Renner von derzeit über 1.000 gesuchten Neonazis, rechten Reichs­bür­ge­r*in­nen und QAnon-Anhänger*innen auf freiem Fuß aus. Ihre Annahme stützt die Bundestagsabgeordnete auf der taz vorliegende Antworten der Bundesregierung auf schriftliche Fragen zu politisch motivierter Kriminalität. Zuletzt stand eine Zahl von 597 untergetauchten Rechtsextremen im Raum – darin waren allerdings Reichsbürger und andere inhaltlich als extrem rechts einzuordnende Ver­schwö­rungs­ideo­lo­g*in­nen nicht berücksichtigt.

Deswegen hat Renner deren Zahlen noch einmal gesondert abgefragt: Laut der Antwort aus dem Bundeskriminalamt gab es zum letzten Erhebungsstichtag im vergangenen Herbst 244 offene Haftbefehle gegen 179 Personen unter dem Label „Reichsbürger/Selbstverwalter“. Von diesen Personen gälten den Sicherheitsbehörden allerdings nur 26 auch als rechtsextrem, der große Rest sei unter „Sonstige“ aufgeführt.

Noch größer wird die Dunkelziffer, wenn man sich den Phänomenbereich „Sonstige“, also die sogenannte „politisch motivierten Kriminalität sonstige Zuordnung“, genauer anschaut. Hier gibt es insgesamt 621 offene nationale Haftbefehle gegen insgesamt 449 Personen. Bei 110 dieser Personen lagen dem Haftbefehl Gewaltdelikte zugrunde.

Reichs­bür­ge­r*in­nen machen den Zahlen zufolge ein Drittel dieser Gruppe aus. Laut Renner zählen neben Reichs­bür­ge­r*in­nen auch verschwörungsideologische QAnon-Gruppen, Co­ro­nal­eug­ne­r*in­nen und auch einige rechte Siedlergruppen zu dieser Kategorie. Verbindendes Merkmal sei häufig „Antisemitismus, Rassismus und die Ablehnung demokratischer Prozesse“.

Vervielfachung während der Corona-Pandemie

Der Bereich „Sonstige“ existiert bereits seit einigen Jahrzehnten, ist aber vor allem im Zuge der Corona-Pandemie um ein Vielfaches angewachsen, weil die Sicherheitsbehörden das protestierende verschwörungsideologische Spektrum entlang ihrer Kriterien der Extremismustheorie nicht klar eingeordnet haben. Mittlerweile gehen viele der Schwur­b­le­r*in­nen aus Corona-Zeiten auch mit offen rechtsextremen Gruppen wie den Freien Sachsen auf die Straße. Die Linken-Politikerin verweist darauf, dass viel der unter „Sonstiges“ zugeordneten Straftaten einer menschenfeindlichen Motivation folgten, wie sie insbesondere Rechts­ex­tre­mis­t*in­nen vertreten.

Renner kritisierte entsprechend die Kategorisierung der Sicherheitsbehörden als Augenwischerei: „Niemand darf 1.000 Haftbefehle gegen Neonazis, Reichsbürger und QAnon-Anhänger klein reden oder in Statistiken als Sonstige verstecken.“ Das Gewaltpotential der Szene wachse seit Jahren, sagte sie der taz: „Personen, die von einer antisemitischen Verschwörung fabulieren, eine Militärdiktatur herbeisehnen und den bewaffneten Sturz der Demokratie vorbereiten, in eine harmlos scheinende Kategorie zu verschieben, verstellt den Blick auf die realen Gefahren.“

Hinzu kommt, dass die Zahl der mit Haftbefehl gesuchten Neonazis zuletzt kaum abgenommen hat. Im Jahr 2023 verringerte sich die Zahl nur um 22 Personen von 619 auf 597, wie das Neue Deutschland zuletzt berichtete. Im Bereich „politisch motivierter Kriminalität links“ gibt es demnach derzeit 94 mit Haftbefehl gesuchte Personen.

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